Markteffizienz statt Marktneutralität
ms Frankfurt
Die Europäische Zentralbank (EZB) könnte künftig bei ihren Anleihekäufen vom Prinzip der Marktneutralität abweichen und es durch das Prinzip der Markteffizienz ersetzen – was ein zentraler Schritt in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung des Klimawandels in der Geldpolitik wäre. In diese Richtung äußerte sich zumindest EZB-Präsidentin Christine Lagarde am Montag beim virtuellen geldpolitischen Dialog mit dem EU-Parlament. Was Lagardes Worte besonders interessant macht ist, dass sie unmittelbar nach dem wegweisenden Treffen des EZB-Rats am Wochenende kamen, bei dem es um die laufende Strategieüberprüfung ging.
Die Rolle der EZB im Kampf gegen den Klimawandel und eine „grüne Geldpolitik“ sind eines der zentralen und kontroversesten Themen bei der ersten umfassenden Strategieüberprüfung seit 2003. Wie weltweit ist der Druck seitens großer Teile der Öffentlichkeit auf die Zentralbank groß, mehr beizutragen im Kampf gegen die Erderwärmung. EZB-Chefin Lagarde hat sich seit ihrem Amtsantritt im November 2019 für eine aktivere Rolle starkgemacht. Im EZB-Rat gab und gibt es aber Vorbehalte, allerdings scheinen sich die Positionen anzunähern. Ex-EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing hatte die EZB indes in einer Umfrage der Börsen-Zeitung vor dem Strategietreffen gewarnt, falsche Hoffnungen zu wecken (vgl. BZ vom 18. Juni).
Die Diskussionen drehen sich dabei ganz zentral um das Prinzip der Marktneutralität, das die EZB lange Zeit hochgehalten hat. Im Kern besagt das Prinzip, dass die EZB ihre Anleihekäufe im Zuge der quantitativen Lockerung (Quantitative Easing, QE) so gestaltet, dass es möglichst keine Marktverzerrung im Sinne einer Bevorzugung einzelner Sektoren oder Unternehmen gibt. Konkret heißt das beispielsweise, dass als grün deklarierte Bonds nicht verstärkt gekauft werden. Genau das, also eine Art „grünes QE“, fordern viele Beobachter als EZB-Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel.
Nun aber rückt die EZB zunehmend von diesem Prinzip ab. Lagarde betonte am Montag, dass der EU-Vertrag klar sage, dass die EZB in Übereinstimmung mit dem Prinzip einer offenen Marktökonomie mit freiem Wettbewerb handeln und dabei einen effizienten Einsatz der Ressourcen favorisieren solle. Die Idee der Marktneutralität sei also „nicht im Vertrag verankert“. Dieses Prinzip habe bislang dazu gedient, diese Vorgabe zu operationalisieren. Wenn es „zur Erfüllung des Mandats notwendig“ sei, könne die EZB das aber jederzeit ändern. Die EZB habe zunehmend Belege dafür, dass Finanzmärkte und Banken die Risiken aktuell nicht voll managten und einpreisten, die sich aus dem Klimawandel ergeben könnten, sagte sie.
Vergangene Woche hatte sich bereits das deutsche EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel dafür ausgesprochen, das Prinzip der Marktneutralität durch das Prinzip der Markteffizienz zu ersetzen und die Geldpolitik damit „grüner“ auszurichten. Die Anwendung des Marktneutralitätsprinzips beim Ankauf von Unternehmensanleihen führe zu einer Bevorteilung von Unternehmen aus CO2-intensiven Industrien. Grund sei, dass sich solche Unternehmen stärker auf dem Anleihemarkt finanzierten. Als Handlungsoption nannte Schnabel, stärker klimafreundliche Unternehmen zu berücksichtigen. Zu einem Ausschluss CO2-intensiver Anleihen äußerte sie sich dagegen kritisch.
EZB-Chefin Lagarde erneuerte bei der Anhörung am Montag ihre Einschätzung, dass der EZB-Rat bei seinem Strategietreffen im Taunus vor den Toren Frankfurts „gut vorangekommen“ sei. Es war das erste persönliche Treffen der Euro-Hüter seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Europa im März 2020. Im Mittelpunkt der Strategy Review steht das Inflationsziel. Dabei zeichnet sich ab, dass das aktuelle Ziel von mittelfristig „unter, aber nahe 2%“ durch ein klares 2-Prozent-Ziel mit expliziter Symmetrie ersetzt wird, dass also ein Unterschießen als genauso problematisch angesehen wird wie ein Überschießen (vgl. BZ vom 18. Juni).
Expansive Geldpolitik nötig
Mit Blick auf die aktuelle geldpolitische Ausrichtung untermauerte Lagarde am Montag, dass trotz der Verbesserung der wirtschaftlichen Aussichten weiter eine sehr expansive Geldpolitik nötig sei. Den aktuell unerwartet starken Anstieg der Inflation bezeichnete sie erneut als temporär. Sie dämpfte zudem Sorgen, dass ein starker Anstieg der Inflation in den USA zu zusätzlichem Preisdruck in Euroland führen könnte.