Moskaus Machtdemonstration
Dass Russland jetzt den ersten EU-Staaten den Gashahn abgedreht hat, ist eine weitere bewusste Eskalation der Auseinandersetzungen, die nur mit dem Versuch einer erneuten Machtdemonstration Moskaus erklärt werden kann. Der Kreml will der EU, die das Land wegen des Überfalls auf die Ukraine mit Sanktionen überzieht, noch einmal ihre Abhängigkeiten vor Augen führen. Es geht (wie auch beim demonstrativen Vorzeigen von Atomwaffen) um das Schüren von Angst. Klassische psychologische Kriegsführung eben, deren direkte Auswirkungen jetzt im Falle von Bulgarien und Polen aber überschaubar und kompensierbar bleiben.
Natürlich: Wenn man sich bewusst macht, dass die Gaslieferungen aus Russland auch im tiefsten Kalten Krieg stets zuverlässig und störungsfrei in der EU ankamen, wird schnell klar, auf welchem Level die bilateralen Beziehungen mittlerweile angekommen sind. Die EU-Staaten können dies aber immer noch mit einer gewissen Gelassenheit zur Kenntnis nehmen. Denn aktuell erreicht Moskau mit seiner Eskalationsspirale nur, dass das Bemühen um Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen noch weiter verstärkt wird. Sowohl in Brüssel als auch in Berlin wird zurzeit auf vielen Ebenen mit Hochdruck daran gearbeitet, die Energiewende voranzutreiben und die Lieferwege von fossilen Energieträgern zu diversifizieren. Deutschlands Gasbedarf wurde im vergangenen Jahr noch zu 55% von Russland abgedeckt. Aktuell liegt der Anteil nach Angaben von Wirtschaftsminister Robert Habeck nur noch bei 35%. Und die EU-Kommission hat im März bereits ein komplexes Maßnahmenpaket vorgestellt, das den Bedarf an russischem Erdgas bis Jahresende um zwei Drittel reduzieren soll. Auch wenn nicht alle Ideen greifen werden – das Programm zeigt grundsätzlich, was möglich sein könnte.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die russische Führung in den nächsten Wochen den Druck noch einmal erhöht und noch weitere Länder von der Gasversorgung abknipst. Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew hat vor einigen Tagen erst gespottet, die EU werde keine Woche ohne russisches Gas überleben. Das hörte sich aber eher nach einem Pfeifen im Walde an. Das Drohpotenzial des Kreml wird nämlich von Monat zu Monat weiter abnehmen. Dies sollten sich auch die EU-Länder bewusst machen und weiterhin geschlossen und konsistent gegenüber Russland auftreten. Dass Ungarn bereits angekündigt hat, Gasimporte auch in Rubel bezahlen zu wollen, ist in diesem Zusammenhang natürlich wenig hilfreich.