Stabilitäts- und Wachstumspakt

Ökonomen plädieren für Reform der EU-Fiskalregeln

In der Debatte um die derzeit ausgesetzten EU-Haushaltsregeln unterstützen auch zahlreiche angesehene Ökonomen eine Reform – insbesondere eine Anhebung der Schuldenobergrenze sowie neue Vorgaben bei den Abbaupfaden. Ob eine Unterstützung von Investitionen nötig ist, scheint dagegen unklar.

Ökonomen plädieren für Reform der EU-Fiskalregeln

sp/ahe Berlin/Brüssel

In die Rufe nach einer Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts haben sich weitere führende Ökonomen in Deutschland eingereiht. Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, äußerte sich am Dienstag skeptisch, dass mit den geltenden Regeln alle Euro-Länder wieder eine Schuldenstandsquote von 60% erreichen können. „Es ist unrealistisch, dass unter Beibehaltung der geltenden Regeln innerhalb von kurzen Zeiträumen auf 60% konsolidiert würde“, sagte Grimm in einer Online-Diskussion, zu der das SPD-Wirtschaftsforum geladen hatte.

Ähnlich äußerte sich auch Peter Bofinger, der den Wirtschaftsweisen von 2004 bis 2019 angehört hatte. Die Länder der Eurozone auf einen Schuldenstand von 60% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) herunterzusparen sei ökonomisch nicht vertretbar, betonte er. Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg nannte die vom Eu­ropäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) im Oktober vorgeschlagene Anhebung der Schuldenobergrenze von 60% auf 100% eine „pragmatische Lösung“.

Nach den milliardenschweren Unterstützungen der Wirtschaft in der Coronakrise kommen die Länder der Eurozone aktuell auf einen Schuldenstand von etwas mehr als 100% des BIP. Bofinger verwies allerdings darauf, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt schon vor der Pandemie dysfunktional gewesen sei und steigende Schuldenstände nicht verhindert habe.

Eine Reform des Pakts sollte nach Ansicht der Ökonomin Grimm den Schwerpunkt darauf legen, Regeln für einen Schuldenabbau in Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs festzulegen. „Ich halte eine Reform der Regeln für zielführend“, betonte sie. „Ich glaube aber, dass wir bei der Reform auch berücksichtigen müssen, dass der Abbau von Staatsschulden auf eine vorhersehbare Weise geschieht.“

„Nicht mehr zweckmäßig“

ESM-Chef Klaus Regling erinnerte in der Debatte noch einmal daran, dass sich die ökonomischen Rahmenbedingungen seit Verabschiedung des Stabilitätspakts 1997 fundamental geändert hätten. Wegen strukturell niedrigerer Zinsen sei die Schuldentragfähigkeit der Staaten heute höher. „Wenn die 60% damals richtig waren, dann sind sie heute nicht mehr richtig“, so Regling. „Aus ökonomischen Gründen ist es möglich, einen höheren Schuldenstand anzusetzen.“

Über eine Reform der Fiskalregeln, die noch bis Jahresende ausgesetzt sind, debattieren seit Herbst auch schon die EU-Finanzminister. Frankreich, das aktuell den Ratsvorsitz innehat, dringt auf eine grundsätzliche Verständigung noch in diesem Halbjahr. Konkrete Änderungsvorschläge will die EU-Kommission Ende Mai vorlegen.

Das unabhängige, global agierende Beratungsunternehmen Oxford Economics hatte bereits in der vergangenen Woche in einer Analyse darauf hingewiesen, dass sich Ökonomen eigentlich darüber einig seien, dass die bestehenden Regeln „nicht mehr zweckmäßig“ seien. Die politische Situation in Deutschland, den Niederlanden und Italien biete zugleich eine Gelegenheit, die Regeln zu vereinfachen und gleichzeitig Wachstum und Nachhaltigkeit zu fördern und so einen günstigeren makropolitischen Mix innerhalb Europas zu schaffen, hieß es.

Oxford Economics erwartet vom anstehenden Prozess zwar keinen Paradigmenwechsel in der EU-Fiskalpolitik, aber wichtige Änderungen – insbesondere was eine Sonderbehandlung grüner und digitaler öffentlicher Investitionen betrifft. ESM-Chef Regling sagte dagegen am Dienstag, er glaube nicht, dass ein Scheitern einer Reform dazu führen würde, dass geplante Investitionen in Klimaneutralität und Digitalisierung unterblieben. „Es wäre für Glaubwürdigkeit und Transparenz aber wichtig, einen Pakt zu haben, der ökonomisch sinnvoll ist und dann auch politisch angewendet werden kann“, sagte er.

Auch die Wirtschaftsweise Grimm zeigte sich zuversichtlich, dass die Transformation Europas mit den bestehenden Regeln gelingen könne. „Die Vergangenheit hat gelehrt, dass innerhalb der gültigen Fiskalregeln ein hohes Maß an Flexibilität besteht, um die wirtschaftliche Erholung zu sichern“, sagte sie. Damit liegt Grimm auf Linie der Bundesregierung: Sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als auch sein Nachfolger als Finanzminister, Christian Lindner (FDP), hatten schon betont, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt seine Flexibilität während der Coronakrise unter Beweis gestellt habe. Lindner hatte auf dem jüngsten Eurogruppe-Treffen betont, grundlegende Veränderungen der Regeln er­warte er nicht. Es müsse aber eine kluge Balance aus einer Begrenzung der öffentlichen Verschuldung und der Freisetzung von Investitionen geben.

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