Politik will Ausbildung stärker fördern
Der Fachkräftemangel ist aktuell so groß wie seit 2018 nicht mehr. Einer jüngst publizierten Umfrage des Münchner Ifo-Instituts zufolge klagte mehr als ein Drittel der befragten Unternehmen über Schwierigkeiten, geeignete Mitarbeiter für offene Stellen zu finden. Mit 34,6% registrierte das Wirtschaftsforschungsinstitut den zweithöchsten jemals gemessenen Wert in seiner vierteljährlichen Umfrage. Die Coronakrise linderte die Engpässe nur kurzfristig, weil die Unternehmen während des Produktionsstillstands zu Beginn der Pandemie und der folgenden Lockdowns insgesamt weniger Mitarbeiter einstellten.
Verschärft werden dürfte das Problem neben dem demografischen Wandel noch durch den historischen Einbruch an geschlossenen Ausbildungsverträgen, den das Statistische Bundesamt (Destatis) vergangene Woche meldete. Denn: „Fehlende Azubis von heute sind der Fachkräftemangel von morgen“, sagte Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), zu den Destatis-Daten.
Schulabsolventen zieht es heute immer mehr an die Universitäten. Für fast jede Tätigkeit gibt es heute einen eigenen Studiengang. Die Zahl der Studierenden in Deutschland nimmt stetig zu. Mehr als jeder zweite Schulabsolvent schließt ein Studium an. Dadurch fehlen den Ausbildungsberufen Bewerber. Experten wie der Soziologe Manfred Stock warnen vor einer Überakademisierung der Wirtschaft, die dem Qualifikationsbedarf der Unternehmen nicht gerecht werde. Denn die Studienanfänger orientierten sich an ihren eigenen Interessen und weniger an den Möglichkeiten, die sich ihnen später auf dem Arbeitsmarkt bieten.
Neue Regierung gefordert
Das Thema Fachkräftenachwuchs steht auch auf der Tagesordnung der großen Parteien, die sich zur Bundestagswahl stellen. Die Unionsparteien setzen auf „die zunehmende Beschäftigung von Frauen und Älteren, Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt“, heißt es in ihrem Programm. Aber auch über den „gesteuerten Zuzug gut ausgebildeter und leistungsbereiter Menschen aus den Mitgliedstaaten der EU und aus außereuropäischen Staaten“ sollen die Engpässe gelindert werden. Die Union plant im Rahmen des im März 2020 in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes ein Pilotprojekt an deutschen Botschaften in Drittstaaten, wo sogenannte „Fachkräfteeinwanderungs-Attachés“ einwanderungswillige Fachkräfte unterstützen sollen.
Die SPD um Kanzlerkandidat Olaf Scholz will die Gebühren für Techniker- und Meisterkurse abschaffen und die Ausbildung so finanziell stemmbarer machen. Neben der Förderung von Weiterbildungsprogrammen soll die „berufliche Ausbildung praxisnah mit Schule und Hochschule“ verknüpft werden und neue Ausbildungskonzepte erdacht werden.
Die Grünen erkennen in ihrem Wahlprogramm die Komplexität des Fachkräftemangels an. Insbesondere die Aus- und Weiterbildung soll gefördert werden. Neben einem Weiterbildungsgeld für die Angestellten sollen kleine und mittlere Unternehmen, die es besonders schwer haben, geeigneten Nachwuchs zu finden, eine Weiterbildungsförderung erhalten. Mit einer „Talentkarte“ soll zudem die Einwanderung von Experten entbürokratisiert werden.
Die FDP legt den Fokus ebenfalls auf den für die deutsche Wirtschaft so wichtigen Mittelstand. Durch „eine flächendeckend zukunftstaugliche digitale Infrastruktur, leistungsfähige Verkehrswege und ein starkes duales Bildungssystem“ soll dessen Situation gerade im ländlichen Raum generell verbessert werden. Eine „Blue Card“ und eine „Chancenkarte“ mit Punktesystem nach kanadischem Vorbild sollen zudem an einwanderungswillige Fachkräfte vergeben werden können. Die AfD will MINT-Fächer fördern und stärker auf die duale Ausbildung setzen, die Linke das Berufsbildungsgesetz von Grund auf reformieren und den Bedarf an Lehrkräften in Berufsschulen decken.
Die Corona-Pandemie hat dem ohnehin schwächelnden Ausbildungsmarkt weiter zugesetzt. Wie Destatis vor Kurzem meldete, fiel die Zahl der geschlossenen Ausbildungsverträge 2020 deutlich. Es handelt sich mit –9,3% um den größten prozentualen Rückgang an Ausbildungsverträgen für eine duale Berufsausbildung seit Beginn der Zeitreihe 1977. Durch das schwierige wirtschaftliche Umfeld sank die Zahl der Lehrstellen leicht. Problematischer jedoch ist, dass Jugendliche und Betriebe nicht zusammenfinden, da zahlreiche Informationsveranstaltungen aufgrund der Pandemie abgesagt oder verschoben wurden.
„Sommer der Ausbildung“
Im Juni rief die Bundesregierung den „Sommer der Ausbildung“ aus. Mit Aktionstagen will sie Schulabsolventen auf die Möglichkeiten einer Berufsausbildung aufmerksam machen. Zudem sollen Betriebe, die bereits Lehrstellen anbieten oder zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen, mit Prämien gefördert werden. In fast allen Branchen gibt es mehr Lehrstellen als Bewerber. Ein positiver Nebeneffekt für angehende Azubis könnten die Löhne sein, die in vielen Bereichen steigen werden. „Bei der Krankenpflege sind in den letzten zehn Jahren die Löhne schon deutlich gestiegen“, sagt IAB-Experte Alexander Kubis.
BA-Chef Detlef Scheele appellierte an die Betriebe, in der Ausbildung aktiv zu bleiben. „Wer jetzt nicht für seinen eigenen Fachkräftenachwuchs sorgt, wird nur unter erschwerten Bedingungen nach dem Ende der Pandemie Fachkräfte finden“, mahnte Scheele. Viele Betriebe – besonders im Mittelstand – werden bei der Nachwuchssuche bereits kreativ (siehe Text unten).