Christian Keller, Barclays

„Reale Gefahr eines Kontroll­­verlusts“

Die Zentralbanken weltweit stemmen sich mit Zinserhöhungen und anderen Maßnahmen gegen die Inflation. Daran gibt es aber auch verstärkt Kritik, weil zugleich die Wirtschaft an Schwung verliert. Ein Interview mit Christian Keller, Chefvolkswirt bei Barclays.

„Reale Gefahr eines Kontroll­­verlusts“

Mark Schrörs.

Herr Keller, die Zentralbanken weltweit erhöhen ihre Leitzinsen weiter in einem teils beispiellosen Tempo – trotz der zunehmenden Rezessionssorgen. Haben sie angesichts der hohen Inflation gar keine andere Wahl, oder überziehen sie jetzt bereits?

Die Zentralbanken haben derzeit keine andere Wahl. Ob sie „überzogen“ haben, wird man erst im Nachhinein oder auch nie wirklich wissen – denn was wäre geschehen, hätten sie nicht mit Nachdruck gehandelt? Sie müssen die Gefahr der Rezession gegen die Gefahr eines Kontrollverlusts über den Inflationsprozess abwägen. Das mag abstrakt klingen, ist aber eine reale Gefahr, die zu noch viel höheren Kosten führen könnte, wenn Zentralbanken letztlich mühsam versuchen müssten, Vertrauen wiederherzustellen und Inflationserwartungen wieder einzufangen. Die USA in den frühen 1980er Jahren sind ein Beispiel dafür.

Die große Sorge gilt einer Entankerung der Inflationserwartungen und einer Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation verfestigen könnte. Wie schätzen Sie dieses Risiko ein?

Das Risiko ist in den USA bereits recht hoch und ein wesentlicher Grund für die sehr deutliche geldpolitische Ansage der Fed seit Jackson Hole. Die US-Arbeitslosenquote liegt unter der Gleichgewichtsrate, und ein Lohnwachstum von 6 bis 7% ist mit 2% Zielinflation nicht vereinbar. In Europa ist die Situation weniger eindeutig. Die Löhne steigen auch hier, aber bisher noch wesentlich langsamer. Die Tarifverhandlungen der nächsten Quartale werden entscheidend sein. Je niedriger die Abschlüsse und je mehr es nur zu einmaligen Ausgleichszahlungen kommt, desto entspannter kann die EZB sein.

Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass die Weltwirtschaft grundsätzlich in ein neues Inflationsregime steuert, wie die Zentralbank der Zentralbanken BIZ warnt?

Das ist seit Jahrzehnten zum ersten Mal eine tatsächliche Gefahr. Selbst wenn man dieser Gefahr derzeit noch eine mäßige Wahrscheinlichkeit zu­ordnen würde, sind die damit verbundenen Kosten so hoch, dass es Sinn macht, jetzt energisch zu handeln. Seit Jackson Hole ist klar, dass die Zentralbanken sich in dem Punkt einig sind.

Die Verschärfung der Finanzierungsbedingungen und der Entzug von Liquidität schüren Ängste vor einer neuen globalen Finanzkrise. Teilen Sie diese Sorge?

Globale Zins- und die damit verbundenen Währungsentwicklungen er­zeugen immer Stress im System. Das konnten wir ja auch bereits beobachten, etwa bei Kryptoprodukten. Ich bin aber recht optimistisch, was die Vermeidung einer „systemischen“ Krise angeht. Es kann noch zu weiteren Anpassungen bei Bewertungen kommen, aber der Weg scheint mir der einer schmerzvollen längeren Anpassung, nicht unbedingt der einer plötzlichen Finanzkrise.

Zum Schluss ein Wort speziell zur EZB: Wie weit muss die EZB ihren Leitzins noch anheben, um die Inflation Richtung 2% zu drücken? Und droht mit der Straffung eine neue Euro-Schuldenkrise?

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass die EZB die Zinserhöhungen stoppen kann, bevor sie zumindest eine 2 vor dem Komma hat. Das wäre dann ein neutraler bis milde restriktiver Zins. Die Kombination höherer Zinsen und schrumpfender Wirtschaft ist eine Belastung für die hoch verschuldeten Euro-Länder. Aber das kommt zumindest mit langer Ankündigung und einer Anzahl von Unterstützungsmechanismen, im Vergleich zur Zeit nach der Weltfinanzkrise.

Die Fragen stellte

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