Reise ins Unbekannte
Frankreich nach den Wahlen
Reise ins Unbekannte
Schwierige Suche nach einer neuen Regierung − Zusammensetzung der Assemblée sorgt für Unsicherheiten
wü Paris
Von Gesche Wüpper, Paris
Für Frankreichs Parlament beginnt nach den vorgezogenen Neuwahlen eine Reise ins Unbekannte. Anleger reagierten verunsichert, der CAC 40 schloss leicht im Minus. Denn die Assemblée nationale steht erstmals in der V. Republik ohne Mehrheit da, dafür geteilt in drei Lager mit drei etwa gleich großen Blöcken. Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire (NFP) kam im zweiten Wahlgang überraschend auf die meisten Stimmen vor der zentristischen Regierungsallianz Ensemble und dem rechtsextremen Rassemblement National (RN), der nach der ersten Runde in Führung gelegen hatte.
„Heute Abend beginnt eine neue Ära“, erklärte Premierminister Gabriel Attal nach Bekanntgabe der Ergebnisse. Attal, der erst seit dem 9. Januar im Amt ist, reichte am Montag bei Präsident Emmanuel Macron seinen Rücktritt ein. Auf dessen Bitte bleibt er jedoch erstmal im Amt, „um die Stabilität des Landes sicherzustellen“, so der Elysée-Palast. Immerhin beginnen am 26. Juli die Olympischen Spiele in Paris. Vor allem aber dürfte die Regierungsbildung angesichts der Wahlergebnisse länger als sonst üblich dauern.
Weit von absoluter Mehrheit entfernt
Sowohl das Linksbündnis NFP mit seinen 182 Sitzen als auch Ensemble mit 168 Sitzen und der RN mit 143 Sitzen sind weit von den 289 für die absolute Mehrheit erforderlichen Sitzen entfernt. Laut Verfassung beruft der Präsident den Premierminister. Dabei ist er aber nicht verpflichtet, einen Vertreter des Bündnisses mit den meisten Stimmen zu ernennen. Allerdings haben die Vorgänger Macrons in den wenigen Fällen, in denen ihre Partei bei den Parlamentswahlen nicht die Mehrheit erzielt hat, das Votum berücksichtigt.
Macron habe die Pflicht, die linke Volksfront mit der Regierungsbildung zu beauftragen, behauptete Jean-Luc Mélenchon von der linksradikalen Partei La France Insoumise (LFI) am Wahlabend dennoch. Sie gehört neben den Sozialisten, den Grünen und den Kommunisten dem Linksbündnis an. LFI verfügt künftig über 74 Abgeordnete in der Nationalversammlung, die Sozialisten über 59, die Grünen über 28 und die Kommunisten über neun.
Neue Volksfront will regieren
Die kommunistische Gewerkschaft CGT forderte Macron auf, das Ergebnis der Urnen zu respektieren und eine Regierung rund um das Programm der Neuen Volksfront zu bilden. Sie will unter anderem von Macron angestoßene Reformen rückgängig machen, den Mindestlohn auf 1.600 Euro netto pro Monat anheben und die Flat Tax wieder abschaffen. Macron habe sich total unverantwortlich verhalten, weil er bis zum Ende versucht habe, den Rechtsextremismus gegen die Linke auszuspielen, kritisiert die CGT. Dadurch habe er mit dazu beigetragen, den RN und seine Ideologie zu legitimieren.
Dass Attal als Premierminister bleibt, dürfe nicht das Votum der Franzosen und Französinnen auslöschen, erklärte LFI-Koordinator Manuel Bompard. Vertreter der linksradikalen Partei wollten sich später am Montag mit den anderen Parteien der Neuen Volksfront treffen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. „Wir müssen im Laufe der Woche in der Lage sein, einen Kandidaten für das Amt des Premierministers zu präsentieren“, sagte Sozialisten-Chef Olivier Faure dem Radiosender „France Info“.
Mélenchon ist umstritten
Es müsse ein Vorschlag mit einer Regierung sein, die alle Facetten der neuen Volksfront widerspiegele, meint LFI-Koordinator Bompard. Parteigründer Mélenchon ist jedoch selbst innerhalb des Linksbündnisses umstritten. So räumte Raphaël Glucksmann von PS − Place Publique am Freitag gegenüber dem Radiosender „RTL“ ein, dass Mélenchon wegen seiner lauten, wütenden Art ein Problem darstelle. Glucksmann plädierte stattdessen dafür, eine Linke neu aufzubauen, die das Land besänftige.
In den letzten Tagen haben sich mit François Ruffin und Clémentine Autain gleich zwei prominente Abgeordnete von der linksradikalen Partei und ihrem umstrittenen Parteichef abgewendet. Bei den letzten Parlamentswahlen 2022 waren die linken Parteien ebenfalls gemeinsam mit einem Bündnis angetreten, doch ihre Allianz war nur ein Jahr später geplatzt.
Deshalb sind Beobachter jetzt gespannt, ob sich die Parteien der Neuen Volksfront diesmal dauerhaft einigen können. Zumal sie sich bereits jetzt uneinig sind, was mögliche Koalitionspartner angeht. Während LFI eine Koalition mit weiteren Partnern ablehnt, schließen Grüne und Teile der Sozialisten dies bis auf eine Zusammenarbeit mit dem RN nicht komplett aus. Jedoch ist fraglich, ob Vertreter der Zentrumsparteien oder der konservativen Parteien bereit wären, die für einen Teil der Volksfront wichtigsten Programmpunkte wie die Abkehr von der letzten Rentenreform, Lohnerhöhungen und Maßnahmen zur Unterstützung der Kaufkraft mitzutragen.
S&P sieht Unsicherheiten
Möglich wäre auch, dass die Ensemble-Allianz zusammen mit den gemäßigten Republikanern eine Regierung bildet, doch auch ihr würde die absolute Mehrheit fehlen. Dafür müsste sie nach dem Vorbild einer großen Koalition wie in Deutschland die Sozialisten mit an Bord holen. Solche Zusammenschlüsse sind bisher in Frankreich unüblich. Auch gibt es keine Kompromisskultur. Als letzter Ausweg bleibt Macron noch die Möglichkeit, eine sogenannte technische, aus Experten bestehende Regierung einzusetzen. Bis klar ist, wer Frankreich künftig regieren wird, dürfte aber in jedem Fall noch einige Zeit vergehen. Dabei drängt die Zeit, denn es muss dringend ein Haushaltsentwurf erarbeitet werden, um vor Ende des Jahres ein entsprechendes Gesetz verabschieden zu können.
S&P hat bereits gewarnt, dass die neue Assemblée für Unsicherheiten bezüglich der Details der wirtschafts- und finanzpolitischen Strategie Frankreichs sorge. Die Bonitätsnote könnte unter Druck geraten, sollte es dem Land nicht gelingen, das hohe Staatsdefizit zu senken, oder sollte das Wachstum deutlich hinter den Prognosen zurückbleiben. Der Wachstumsmotor könne nur wieder anspringen, wenn es eine lesbare und beständige Wirtschaftspolitik gäbe, erklärte der Arbeitgeberverband Medef. Er plädierte dafür, die Wirtschaftspolitik der letzten neun Jahre fortzuführen.
Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen ist kein Bündnis auf eine absolute Mehrheit gekommen. Die drei großen Blöcke in der Nationalversammlung sind künftig fast gleich groß, was die Regierungsbildung erschwert. Präsident Macron hat deshalb Premierminister Attal gebeten, erstmal noch im Amt zu bleiben.