Weltwirtschaft

Rezession: Neue Gesetzmäßigkeiten

Die deutsche Wirtschaft muss eine Rezession in den USA oder China nicht fürchten. Dadurch würde ein Abschwung nicht verschärft, sondern abgemildert, argumentiert HCOB-Chefvolkswirt Cyrus de la Rubia.

Rezession: Neue Gesetzmäßigkeiten

Lufthansa streicht Tausende Flüge wegen Personalmangels, die Autoindustrie reduziert die Produktion bestimmter Modellreihen wegen fehlender Mikrochips, Fahrräder gibt es schlichtweg nicht mehr und einige Restaurants sind nur noch wenige Stunden pro Tag geöffnet, weil Koch und Kellner fehlen: Diese Engpässe sind für Produzenten und Verbraucher anstrengend und ein Ausdruck dafür, dass wir uns einer Angebotsrezession nähern. Nicht die Nachfrage lahmt, sondern die Unternehmen können schlichtweg nicht mehr so viel produzieren, wie sie möchten, wegen geopolitischer Krisen, Corona und wegen einer ungünstigen demografischen Lage. Die Auftragsbücher sind voll, aber die Aufträge können nicht abgearbeitet werden. Und die Inflation ist vor diesem Hintergrund überwiegend angebotsgetrieben, nicht etwa das Ergebnis einer ungewöhnlich gestiegenen Nachfrage.

Das hat erhebliche Folgen für internationale Konjunkturzusammenhänge sowie für die Wirtschafts- und Geldpolitik. Einige Beispiele verdeutlichen dies: Der frühere Satz „Wenn die USA husten, fängt sich der Rest der Welt eine Grippe“, gilt nicht mehr. Im Gegenteil: Sollten die USA in eine Rezession geraten, dürfte sich das unter dem Strich als eine gute Nachricht für die Eurozone erweisen. Denn ein langsameres US-Wachstum bedeutet, dass die globalen Lieferketten weniger stark beansprucht werden, die Staus vor den Häfen an der US-Westküste sich auflösen, und bislang von den Vereinigten Staaten nachgefragte Konsum- und Investitionsgüter können jetzt in andere Länder verschifft werden und die dortigen leeren Regale auffüllen.

Auch einer harten Landung Chinas – üblicherweise lässt dies stets die Alarmglocken in der Wirtschaft läuten – kann heute mit größerer Gelassenheit begegnet werden. Tatsächlich ist Chinas Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal um satte 2,6% gegenüber der Vorperiode ge­fallen. Das ist für diejenigen deutschen Unternehmen, die einen Großteil ihres Umsatzes in China ma­chen, problematisch. Insgesamt hatte die Nachricht einer lahmenden China-Konjunktur jedoch durchaus positive Seiten für die deutsche Volkswirtschaft. Denn sie verstärkte den Rückgang der Preise für Rohöl, Industriemetalle und andere Rohstoffe, auf die Unternehmen in Deutschland so dringend angewiesen sind.

Eine Rezession in einer der großen Wirtschaftsregionen kann in der heutigen Situation daher generell als Puffer für die weltwirtschaftliche Entwicklung angesehen werden. Das gilt auch im Zusammenhang mit der Geldpolitik. Entspannung in den Lieferketten und niedrigere Rohstoffpreise bedeuten weniger Inflation, und das vermindert den Druck auf die Notenbanken, die Leitzinsen besonders kräftig anzuheben. Je milder die Zinsanhebungen ausfallen, desto weniger wird die Konjunktur – etwa im Bausektor – gebremst.

Für die deutsche Volkswirtschaft bedeutet dies nicht, dass zwingend eine Rezession vermieden wird, wenn andere Teile der Weltwirtschaft in eine solche geraten. Anders als früher würde jedoch ein Abschwung hierzulande nicht verschärft, sondern abgemildert.

Preisgefüge ändert sich

Dieser Zusammenhang gilt auf der nationalen Ebene auch für den deutschen Arbeitsmarkt. Der erhebliche Personalmangel hat zur Folge, dass ein Rückgang der Wirtschaftsleistung in einem Sektor die Lage am Arbeitsmarkt etwas entspannt, so dass andere günstiger laufende Sektoren eine bessere Chance haben, ihr Personaldefizit zu reduzieren. In der Rezession würde also die Arbeitslosigkeit – anders als beispielsweise in den Angebotsrezessionen der 1970er und 1980er Jahre – kaum steigen, weil viele Arbeitgeber es sich drei­mal überlegen werden, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu entlassen. Schließlich wissen sie nicht, ob sie angesichts der ungünstigen Demografie im nächsten Aufschwung ihren Personalbestand wieder aufstocken können. Das wiederum hat konjunkturell gesehen den großen Vorteil, dass eine Ab­wärts­spirale aus steigender Ar­beits­losigkeit, geringerer Konsumnachfrage und einer dadurch vertieften Rezession vermieden wird.

Heißt das, dass unsere Wirtschaft stets am Anschlag fahren wird und es nur um die Frage geht, wie hart man am Anschlag ist? Nein, auch wenn die Normalisierung ihre Zeit braucht. Wir befinden uns in einem umfassenden Strukturwandel. Das gesamte Preisgefüge ist dabei sich zu ändern. Arbeitgeber, die sich über Arbeitskräftemangel beklagen und gleichzeitig nicht darüber nachdenken, den Beschäftigten mehr als den Mindestlohn zu bezahlen, haben dies noch nicht verstanden. Konsumenten, die bestreiten, dass ein normaler Mittagstisch in einem Restaurant durchaus 20 Euro kosten darf, wenn das Personal ausreichend entlohnt werden soll, ebenso wenig.

Faktor Arbeit wird teurer

Das Ergebnis dieses häufig zähen Anpassungsprozesses wird sein, dass der Faktor Arbeit wegen der demografischen Lage dauerhaft teurer wird. Die Unternehmen, die nicht über die Preissetzungsmacht verfügen, um die höheren Arbeitskosten an die Endverbraucher weiterzugeben oder durch Kostensenkungen an anderer Stelle – Stichworte sind hier unter anderen Automatisierung und Digitalisierung – zu kompensieren, werden über kurz oder lang aus dem Markt ausscheiden müssen.

Bestimmte Dienstleistungen und Berufe wird es in Zukunft in Deutschland nicht mehr oder nicht mehr im derzeitigen Ausmaß geben, so wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hauspersonal immer weniger nachgefragt wurde und Schuhputzer aus dem Straßenbild verschwanden. Daran werden wir uns gewöhnen müssen. Nicht gewöhnen müssen wir uns an lange Wartezeiten an Flughäfen, monatelange Lieferzeiten für Autos und Fahrradläden ohne Angebot. Denn das regelt der Markt, auch wenn dieser unsere Geduld gerade arg strapaziert.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.