Ringen um EZB-Politik wird immer intensiver
ms/rec Frankfurt
Nach der aufsehenerregenden Positionierung von EZB-Präsidentin Christine Lagarde zur weiteren EZB-Zinspolitik wird das Ringen der Euro-Notenbanker um den geldpolitischen Kurs immer intensiver. Verfechter eines eher beherzteren Vorgehens der EZB gegen die rekordhohe Inflation und Vertreter eines eher vorsichtigen Kurses kämpfen um die Deutungshoheit. Dabei geht es nicht nur um die Höhe einer ersten Zinserhöhung im Juli, sondern grundsätzlicher um das Ausmaß der avisierten Normalisierung der Geldpolitik. Die Uneinigkeit verspricht bis zur nächsten Zinssitzung am 9. Juni große Spannung.
EZB-Chefin Lagarde hatte am Montag in einem Blog-Beitrag – in Form und Inhalt äußerst ungewöhnlich – de facto die Zinsentscheidungen der drei nächsten Sitzungen vorweggenommen: Ende der billionenschweren Nettoanleihekäufe früh im dritten Quartal, eine erste Zinserhöhung im Juli und eine weitere im September – wobei das so interpretiert wurde, dass es um jeweils 25 Basispunkte geht, weil Lagarde zugleich von einem Ende des Negativzinses bis Ende September sprach. Der Einlagenzins liegt bei −0,5%. Bei einigen im Rat, die sich ein aggressiveres Vorgehen vorstellen können, sorgte das für Unmut.
Bereits am Dienstag hatte Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann, ein Hardliner („Falke“) im EZB-Rat, öffentlich Widerspruch geäußert und eine Anhebung gleich um 50 Basispunkte im Juli als „angemessen“ bezeichnet – ein ungewöhnlicher Vorgang. Er warnte, dass alles andere als „schwach“ aufgefasst werden könne gegen die rekordhohe Inflation von zuletzt 7,4%.
Am Mittwoch dann sagte der niederländische Zentralbankchef Klaas Knot, ebenfalls ein „Falke“, dass er alles in Lagardes Blog unterschreiben könne – fügte aber hinzu, dass mit Lagardes Positionierung eine Zinserhöhung um 50 Basispunkte im Juli „ganz klar nicht vom Tisch“ sei. Ähnlich äußerte sich auch Lettlands Notenbankchef Martins Kazaks.
Andere Euro-Notenbanker unterstützten dagegen einen eher vorsichtigeren Kurs mit Zinserhöhungen um 25 Basispunkte. Dazu gehörten unter anderem EZB-Chefvolkswirt Philip Lane und Finnlands Zentralbankchef Olli Rehn. Die Normalisierung der EZB-Geldpolitik solle angesichts der hohen Unsicherheit in der Wirtschaft als Folge des Kriegs in der Ukraine schrittweise erfolgen, so Rehn.
Besonders bemerkenswert war auch die Wortmeldung von EZB-Direktoriumsmitglied Fabio Panetta am Mittwoch. Der Italiener gilt als eine der größten „Tauben“ im EZB-Rat. Es müsse nun darum gehen, die geldpolitische Unterstützung „graduell“ und in kleinen Schritten zurückzufahren, sagte Panetta bei einer Rede am Leibniz-Institut SAFE in Frankfurt.
Fast noch wichtiger an Panettas Rede aber war, dass er in einem zentralen Punkt indirekt auf Distanz zu hochrangigen Euro-Notenbankern und auch EZB-Chefin Lagarde ging. Er kritisierte den verbreiteten Ansatz, den sogenannten neutralen Zins zum Maßstab für Zinserhöhungen zu machen. Dieser gilt als Richtwert für eine Geldpolitik, die die Wirtschaft weder anschiebt noch bremst. Die EZB taxiert ihn aktuell bei 1% bis 2%. Allerdings handelt es sich beim neutralen Zins bloß um grobe Schätzungen. Panetta riet daher davon ab, die geldpolitische Normalisierung am neutralen Zins auszurichten. Dagegen hatte etwa Österreichs Notenbankchef Holzmann an Lagardes Blog-Beitrag explizit auch kritisiert, dass er sich „eine klare Kommunikation darüber gewünscht (hätte), wie wir zu neutralen Zinssätzen kommen“.
Entschieden argumentierte Panetta auch dagegen, parallel zur Zinswende die EZB-Bilanz zu schrumpfen. Das würde bedeuten, auslaufende Anleihen, die die EZB und nationale Notenbanken im Rahmen der Kaufprogramme APP und PEPP erworben haben, nicht länger zu ersetzen. Panetta spricht sich damit auch klar gegen das Vorgehen der US-Notenbank Fed aus. Die EZB will bislang sogar bis Ende 2024 fällige Anleihen aus dem Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP ersetzen. Das bedeutet einen starken monetären Impuls.