Stabwechsel im Epochenwechsel
Von Stefan Paravicini und Angela Wefers, Berlin
Etwas mehr als zwölf Wochen verbleiben bis zur Bundestagswahl am 26. September. Die bevorstehende politische Weichenstellung ist gleich aus mehreren Gründen eine ganz besondere. Denn nach 16 Jahren im Kanzleramt steht Angela Merkel (CDU) zum ersten Mal seit ihrem Einzug in den Bundestag im Jahr 1990 nicht auf dem Wahlzettel. Es ist die erste Bundestagswahl überhaupt, bei der der amtierende Regierungschef nicht mehr antritt. Für die Union will Armin Laschet (CDU) als Spitzenkandidat Merkels Erbe antreten.
Auch die Grünen sorgen mit der Aufstellung einer eigenen Kanzlerkandidatin für eine Premiere. Annalena Baerbock werden trotz der jüngsten Rückschläge in den Umfragen Chancen auf die Nachfolge von Merkel im Kanzleramt eingeräumt. Sie wäre die erste Regierungschefin einer grünen Partei in einem wichtigen Industrieland weltweit.
Die SPD erhebt mit Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz ebenfalls den Anspruch auf die politische Führung, womit zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl drei Kanzlerkandidaten antreten.
Den neuerlichen Eintritt in eine große Koalition haben die Sozialdemokraten praktisch ausgeschlossen. Schon 2017 ließ sich die SPD nur widerwillig zu einer erneuten Beteiligung an einer von Merkel geführten Regierung überreden, nachdem zuvor die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen gescheitert waren. Ein Regierungswechsel im Herbst scheint nach zuletzt acht Jahren großer Koalition unter der Führung von CDU/CSU und insgesamt zwölf Jahren „Groko“ in der Ära Merkel als ausgemachte Sache.
Besonders ist diese Wahl aber nicht nur wegen des bevorstehenden Stabwechsels nach der historischen Kanzlerschaft von Merkel, die 2005 im Alter von 51 Jahren als erste Kanzlerin und bis dahin jüngste Amtsträgerin Gerhard Schröder ablöste. Besonders sind auch die Umstände, unter denen diese Ära nun zu Ende geht. Denn mit dem „Epochenwechsel“, von dem Merkel zuletzt selbst gesprochen hat, ist nicht das Ende ihrer Kanzlerschaft gemeint, sondern sind vor allem die Erfahrungen während der Corona-Pandemie in den vergangenen 18 Monaten und der Klimawandel angesprochen, die dringend nach politischen Antworten verlangen.
Die Pandemie hat nicht nur den Eindruck verstärkt, dass Deutschland für einen epidemiologischen Ernstfall schlecht gerüstet ist. Bestätigt sehen sich auch alle diejenigen, die das Land für zu behäbig, zu starr und zu bürokratisch halten, um im Standortwettbewerb des 21. Jahrhunderts vorn mithalten zu können. Die Kanzlerin selbst hat die Innovationsstrukturen zuletzt scharf kritisiert. Das passt zum Wahlprogramm der Union, die mit Laschet an der Spitze Deutschland nach 16 Jahren in der Regierungsverantwortung nun ein Modernisierungsjahrzehnt verordnen will.
Das andere epochemachende Ereignis, das bisher auch den Wahlkampf dominiert, ist der Klimawandel. Spätestens das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimagesetz der Bundesregierung hat in diesem Frühjahr klargemacht, dass die nächste Regierung nicht mehr darum herumkommen wird, neben Klimazielen auch konkrete Maßnahmen zu benennen, mit denen die Erderwärmung innerhalb der 2015 in Paris vereinbarten Grenzen gehalten werden kann, ohne spätere Generationen überproportional zu belasten. Die Grünen, die in ihrem Programm die strengsten Maßnahmen für den Klimaschutz beschreiben, sind damit noch vor wenigen Wochen in den Umfragen an der Union vorbei auf Platz 1 geklettert.
Schwarz-Grün oder Ampel
Doch auch das politische Klima unterliegt dem Wandel. Nach handwerklichen Fehlern der grünen Spitzenkandidatin hat sich die Union mit zuletzt wieder geschlossenen Reihen in den vergangenen Wochen zurück auf Platz 1 geschoben und die Herausforderer distanziert. Knapp drei Monate vor der Wahl sieht alles danach aus, als würde statt eines Epochenwechsels in der deutschen Politik erst einmal ein Stabwechsel von Merkel an Laschet erfolgen (siehe Grafik).
Ein schwarz-grünes Bündnis gilt derzeit als wahrscheinlichste Regierungskonstellation im Bund, selbst wenn eine Ampelkoalition aus Grünen, FDP und SPD möglich sein sollte. Den meisten Wählern, von denen sich nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts im Mai mehr als drei Fünftel einen Regierungswechsel wünschen, dürfte ein Wechsel zu Schwarz-Grün nach 16 Jahren Merkel Veränderung genug sein.