EZB-Geldpolitik

Symptomtherapie kann Spaltung nicht verhindern

Noch ein Notfallprogramm: Für die EZB besteht die Gefahr, sich bei den vielen gesteckten Zielen in den eigenen Instrumenten zu verfangen, meinen Dirk Meyer und Arne Hansen von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Symptomtherapie kann Spaltung nicht verhindern

Das vom EZB-Rat beschlossene „Ins­trument zur Absicherung der Transmission“ (TPI) ist der vorläufig letzte Baustein einer Entwicklung, die die Wirtschaftsverfassung des Maastrichter Vertrages ins Gegenteil verkehrt. Das Nichtbeistandsgebot und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung standen als Garanten für eigenverantwortete, solide Staatsfinanzen und die Stabilität des Euro-Geldwertes. Mit den Staatsschuldenkrisen ab 2010 wurden auf fiskalischer Seite Rettungsschirme (EFSM, EFSF, ESM) aus der Not heraus er­richtet, um sie erst ein Jahr später über die Einbindung in die EU-Verträge zu legalisieren. Durch Hilfskredite der Mitgliedstaaten gegen be­stimmte Auflagen wurde das No-Bail-out-Prinzip faktisch – für den Notfall konditioniert – ausgehebelt.

Wider Geist von Maastricht

Neue kreditfinanzierte EU-Notfallhilfen unter Gemeinschaftshaftung der Mitgliedstaaten wie die Kurzarbeiterhilfe Sure (100 Mrd. Euro) und das Pandemie-Programm NGEU (ca. 823 Mrd. Euro) sind an sehr lockere Bedingungen geknüpft, ihre Verwendung wird kaum kontrolliert. Ähnlich strukturierte und anlassbezogene Kreditfazilitäten sind der Wiederaufbauplan „Rebuild Ukraine“ und „Repower EU“ zum Umbau des EU-Energiesektors. Einen weiteren Schritt geht das Schlussdokument der „Konferenz zur Zukunft Europas“ vom Mai 2022. Es enthält den Vorschlag für eine „gemeinsame Kreditaufnahme auf EU-Ebene mit dem Ziel, günstigere Bedingungen für die Kreditaufnahme zu schaffen“ – als Regelfinanzierung und nicht an Bedingungen geknüpft.

Parallel hierzu und ebenfalls zur Unterstützung hoch verschuldeter Staaten praktizierte die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Politik der quantitativen Lockerung. Neben dem nie aktivierten OMT-Programm („Whatever it takes“) stehen hier die (Staats-)Anleiheankaufprogramme PSPP und PEPP im Vordergrund. Diese sind an Regeln gebunden, die eine monetäre Staatsfinanzierung verhindern sollen, etwa eine Kaufobergrenze und die Bindung an den EZB-Kapitalschlüssel. Während das PSPP-Programm hier sehr strikt formuliert ist, wird diese Bindung im PEPP-Programm bereits flexibilisiert.

Diese Flexibilität betont die EZB aktuell sogar besonders hinsichtlich der Wiederanlage von fällig werdenden Staatsanleihen. Zudem könnten zukünftig gegebenenfalls auch EU-Schuldpapiere angekauft werden, was die fiskalischen und monetären Rettungshilfen vereint. Es entsteht eine Fiskalunion mit Transferelementen, jedoch ohne Souveränitätsübertragung der Staaten, die sich der EZB als Kreditgeber der letzten Instanz bedienen – neudeutsch: Fiscal Dominance. Das Er­gebnis ist ein neuer Ordnungsrahmen, der diametral zum Geist von Maastricht die Haftung für nationale Schulden vergemeinschaftet und statt der Stabilität des Euro (Art. 127 AEUV) die Dauerhaftigkeit der Euro-Mitgliedschaft sichert.

Das jetzt vom EZB-Rat beschlossene TPI soll eine „ungerechtfertigte“ Fragmentierung abwenden und kommt einem Bonus auf Partialinsuffizienz für reformunwillige, de facto überschuldete Euro-Staaten gleich. Ankaufobergrenzen gibt es nicht, die Bedingungen sind betont vage formuliert – eine Art „Black Box“. Details veröffentlichte die EZB im Übrigen erst nach der Pressekonferenz, was ihr gegebenenfalls unangenehme Nachfragen ersparte.

EZB muss Zielkonflikt lösen

Die EZB steht also vor der Herausforderung, einerseits die Kreditkosten für die Eurozone als Ganzes inflationsbedingt erhöhen zu müssen und andererseits die Kosten für einige der schwächeren Mitglieder deckeln zu wollen, um eine Fragmentierung der nationalen Anleihemärkte zu verhindern. Während für Ersteres neben einer Leitzinserhöhung der Ankauf neuer Wertpapiere durch die EZB eigentlich gestoppt wurde, sollen für Letzteres im Notfall wieder Schuldpapiere einiger mediterraner Mitgliedstaaten angekauft werden. Um den offensichtlichen Zielkonflikt zu beheben, möchte die EZB etwaige Ankäufe im Rahmen des TPI so durchführen, dass diese keine dauerhaften Auswirkungen auf den geldpolitischen Kurs des gesamten Eurosystems haben. Zu diesem Zweck müsste das für TPI-Ankäufe ausgegebene Zentralbankgeld eigentlich durch Gegengeschäfte neutralisiert werden. Die EZB könnte diese „Sterilisierungen“ gewährleisten, indem sie den Geschäftsbanken mit attraktiven Konditionen Anreize gibt, das zusätzliche Geld bei ihr zu parken.

In ähnlicher Weise wurde die durch das erste EZB-Anleihekaufprogramm SMP zwischen 2010 und 2012 bereitgestellte Liquidität (rund 220 Mrd. Euro) durch eine wöchentliche Hereinnahme von Termineinlagen absorbiert. Durch die relativ kurze Laufzeit müssten diese allerdings regelmäßig neu aufgelegt werden, um zusätzlichen inflationären Druck zu vermeiden. Geschäftsbanken könnten zudem die in den letzten Jahren zu besonders attraktiven Konditionen gewährten TLTRO-Kredite der EZB nutzen, um damit eine nunmehr positive Bonusverzinsung der EZB einzustreichen. Indem die EZB erhöhte Zinsen auf die Einlagen ge­währen müsste, sinkt darüber hinaus der an die Steuerzahler des Euroraumes auszuschüttende EZB-Gewinn – das monetäre Pendant einer Transferunion. Hinzu kommt, dass die nicht handelbaren Termineinlagen für die Laufzeit bei der EZB „eingefroren“ wären, was die Flexibilität der Geschäftsbanken einschränkt.

Gäbe es alternative Wege, die un­erwünschte zusätzliche Liquidität wieder abzuschöpfen? Die EZB könnte aus ihrem Bestand Anleihen von Ländern verkaufen, deren Kreditkosten niedriger sind, also etwa deutsche Staatsanleihen mit niedriger Rendite. Auf diese Weise könnte man die Renditeabstände/Spreads sogar von beiden Seiten komprimieren. Allerdings würden die einhergehenden deutschen Kursverluste zu etwa 90% zulasten der Bundesbank und damit indirekt der deutschen Steuerzahler gehen. Deutschland würde die mediterrane Staatskreditklemme noch subventionieren.

Stattdessen könnte auch die durch die Geschäftsbanken bei der EZB zu hinterlegende Mindestreserve er­höht werden. Allerdings dürfte die Verwundbarkeit des Finanzsektors dadurch sogar steigen, da eine Mindestreserve ja nicht freiwillig aus Risikoaspekten gehalten wird. Zu­dem handelt es sich um ein ungenaues Instrument, dessen Volumen mit den Bilanzen der Geschäftsbanken schwankt, was eine betragsgenaue Steuerung eher verhindert.

„EZB-Bonds“ für Banken

Alternativ könnte die EZB eigene, relativ niedrig verzinste Schuldverschreibungen an Geschäftsbanken verkaufen, um die Geldmenge entsprechend auszugleichen. Solche „EZB-Bonds“ sehen die Regularien bereits vor, Details einer möglichen Emission wurden vor einigen Jahren in EZB-Kreisen konkret diskutiert. Durch ihre Handelbarkeit böten sie den Geschäftsbanken eine attraktive Flexibilität. Da die Wertpapiere zu­dem nicht von der Bonität der Einzelstaaten geprägt würden, wären sie ein großer Schritt hin zur Kapitalmarktunion und könnten den Euro als internationale Reservewährung stärken. Allerdings dürften alle Staatsanleihen – auch deutsche – gegenüber dieser neuen Benchmark mit einer Risikoprämie versehen werden, das Niveau der Kreditkosten würde mithin steigen. Ähnlich wie bei Termineinlagen wären ferner die auf EZB-Bonds gewährten Zinsen durch die Mitgliedstaaten zu tragen.

Seitens der EZB besteht offenbar die Gefahr, sich bei den vielen ge­steckten Zielen in den eigenen Ins­tru­menten zu verfangen. Auf eine Entfesselung im Stile des Zauberkünstlers Houdini darf zwar gehofft, sollte aber nicht vertraut werden. Es steht daher die geldpolitische Handlungsfähigkeit der EZB infrage. Nicht zuletzt, weil außergewöhnliche Ins­trumente Ge­fahren eines Missbrauchs beinhalten.