Im Interview:Silke Tober

„Die Risiken für die Finanzmarktstabilität sind hoch“

Die Geldpolitik der EZB sei deutlich zu restriktiv, sagt Silke Tober, Leiterin des Referats Makroökonomische Grundlangenforschung und Geldpolitik des IMK, im Interview der Börsen-Zeitung. Sie warnt vor negativen Langzeitfolgen für die deutsche Wirtschaft.

„Die Risiken für die Finanzmarktstabilität sind hoch“

Frau Tober, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die EZB im September die Zinsen senkt. Ist das nach aktuellem Stand der Dinge für Sie der richtige Schritt?

Die für September zu erwartende Zinssenkung der EZB wäre ein richtiger Schritt. Die Inflation hat sich schneller zurückgebildet als von den meisten Ökonomen erwartet wurde. Auch der Preisanstieg bei Dienstleistungen hat sich zuletzt in wichtigen Ländern des Euroraums abgeschwächt, und es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend fortsetzt, verstärkt im kommenden Jahr. Das deutlich restriktive Zinsniveau dämpft die Konjunktur und insbesondere die Investitionen, obwohl die Inflation aus heutiger Sicht bereits im kommenden Jahr das Inflationsziel von 2% erreichen wird. Eine weitere Verringerung des Restriktionsgrades ist umso wichtiger als sich die wirtschaftlichen Aussichten eingetrübt haben und die Risiken für die Finanzmarktstabilität hoch sind. Niedrigere Zinsen würden zudem gesamtwirtschaftlich den Kostendruck der Unternehmen mindern, direkt über die Finanzierungskosten und indirekt, indem eine höhere Produktion und steigende Investitionen die Produktivität erhöhen und den Anstieg der Lohnstückkosten verringern.

Erwarten Sie einen deutlichen Rückgang des Lohnwachstums in der Eurozone in den kommenden Monaten und vor allem in 2025 und 2026? Oder könnte der demografische Wandel und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt dazu führen, dass sich das Lohnwachstum auf einem hohen Niveau einpendelt?

Die erhöhten Lohnsteigerungen sind Folge der massiven Preisschocks, nicht aber eines überhitzten Arbeitsmarktes. Eine Abschwächung dürfte bereits in der zweiten Jahreshälfte zu sehen sein und dann, insbesondere im kommenden Jahr. Die demografische Entwicklung sollte dieser absehbaren Normalisierung nicht entgegenstehen. Setzt sich die Wirtschaftsschwäche in Deutschland fort und werden beispielsweise Arbeitnehmende im Rahmen eines Stellenabbaus zunehmend in den frühzeitigen Ruhestand entlassen, stünden allerdings für eine künftige Erholung weniger Fachkräfte zur Verfügung. Auch solche Auswirkungen der restriktiven Geldpolitik muss die EZB im Blick haben.

Was ist aus Ihrer Sicht derzeit das größte Aufwärts- bzw. Abwärtsrisiko für die Inflation?

Das größte Aufwärtsrisiko für die Inflation sind weitere Preisschocks im Zusammenhang mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten. Die größten Abwärtsrisiken sind eine Verfestigung der stagnativen Tendenzen in Deutschland, dem größten Euroland, und eine Abschwächung der Weltwirtschaft beispielsweise als Folge einer harten Landung der US-Wirtschaft. Angesichts der langwährenden Stagnation in Deutschland und der schwachen Erholung im Euroraum insgesamt ist es wichtig, dass die EZB bei ihren geldpolitischen Entscheidungen die Abwärtsrisiken mindestens ebenso hoch gewichtet wie die Aufwärtsrisiken.

Die nach unten gerichteten Risiken für die Konjunktur sind erheblich.

Silke Tober

Zuletzt ist eine Reihe an Konjunkturdaten eher enttäuschend ausgefallen, allen voran in Deutschland. Ist die Konjunkturprognose der EZB für den Euroraum zu optimistisch? Und wenn ja, was folgt daraus für die weitere Geldpolitik der Notenbank?

Die nach unten gerichteten Risiken für die Konjunktur sind erheblich. Da Zinssenkungen nicht sofort, sondern mit Verzögerung wirken, sollte die EZB den Restriktionsgrad zügiger senken als derzeit von den Märkten erwartet wird. Selbst wenn die Zinsen in diesem Jahr noch dreimal um insgesamt 75 Basispunkte gesenkt würden, wäre die Geldpolitik zum Jahresende noch restriktiv.

Für wie restriktiv halten Sie im Moment die Geldpolitik der EZB?

Die Geldpolitik der EZB ist derzeit deutlich restriktiv. Mit 3,75% dürfte der Einlagenzins um knapp 1,5 Prozentpunkte über dem neutralen Niveau liegen. Das expansive Pendant wäre ein Zinssatz von 0,75%. Sollten die nächsten Datenpunkte die erwartete Abschwächung des Lohnanstiegs und der Kerninflation bestätigen, wäre eine zügige Senkung des Leitzinses in die Nähe des neutralen Niveaus angemessen.

Die EZB beginnt in diesem Sommer mit ihrer Strategieüberprüfung. Welche Anpassungen würden Sie sich wünschen?

Mit Blick auf die Strategieprüfung ist es mir sehr wichtig, dass die Neuerungen, die auf Erkenntnissen während der Draghi-Ära beruhen, erhalten bleiben und nicht zum Kollateralschaden der geopolitischen Zerwürfnisse und Preisschocks werden. Dazu gehört nicht nur das symmetrische Inflationsziel, sondern auch die Flexibilität durch die mittelfristige Orientierung und der besonnene Umgang mit Angebotsschocks. Außerdem zählen dazu die Berücksichtigung der Einschränkungen der Geldpolitik, wenn die Nominalzinsen nahe der Nullgrenze liegen, und die Betonung der makroökonomischen Verantwortung der Fiskalpolitik. Auch die von EZB-Präsidentin Christine Lagarde beförderte stärkere Berücksichtigung der klimapolitischen Folgen der Geldpolitik und des Beitrags, den die EZB bei der Transformation der Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität leisten kann, sollten wichtige Bestandteile der neuen Strategie sein, deren Umsetzung ausgebaut und konkretisiert werden sollte.

Das Interview führte Martin Pirkl.


Die Antworten der anderen Befragten:

Alexander Krüger, Chefökonom der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank: „Die Inflationsrisiken lauern von allen Seiten“

Ingo Mainert, CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors (AGI): „Man kann wohl von einer Lohn-Dienstleistungspreis-Spirale sprechen“

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.