KOMMENTAR

Vorrang für die Ideologie

Japan tickt anders: Während überall in Europa populistische Parteien auf dem Vormarsch sind und die Wähler in Großbritannien einen historischen Brexit riskierten, bleiben die Japaner ihrer konservativen Regierung treu. Zum vierten Mal in Folge hat...

Vorrang für die Ideologie

Japan tickt anders: Während überall in Europa populistische Parteien auf dem Vormarsch sind und die Wähler in Großbritannien einen historischen Brexit riskierten, bleiben die Japaner ihrer konservativen Regierung treu. Zum vierten Mal in Folge hat Premier Shinzo Abe einen Wahlsieg errungen. Ein Grund ist die anhaltende Schwäche der Opposition. Die Wähler trauen ihr nach den chaotischen Amtsjahren 2009 bis 2012 nicht mehr über den Weg und halten daher aus Risikoscheu an den Liberaldemokraten fest, die Japans Geschicke seit sechzig Jahren bestimmen.Ein zweiter Grund ist der Populismus von Abe selbst. Abgesehen von der Erhöhung der Mehrwertsteuer vor zwei Jahren vermeidet er jede finanzielle Belastung der Bevölkerung und verspricht reihenweise Wohltaten wie bessere Kinderbetreuung und Altenversorgung, setzt Anhebungen des Mindestlohns durch und drängt die Firmen zu Gehaltssteigerungen. Zuletzt forderte er die Angleichung der Löhne von Zeitarbeitern und Festangestellten. Kein Wunder, dass die Opposition sich über ein Abkupfern ihrer Politik beschwert.Nun steht Abe am Scheideweg: Will er seine voraussichtlich verbleibenden zwei Jahre an der Macht nutzen, um die überfälligen Strukturreformen anzupacken? Als da wären: die Zweiteilung des Arbeitsmarktes überwinden, eine Konsolidierung der Agrarparzellen erzwingen und den Freihandelsvertrag für die Pazifikanrainer ratifizieren? Oder investiert er sein politisches Kapital in eine Verfassungsreform? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Abe seiner nationalistischen Ideologie folgt und die Chance der Verfassungsrevision ergreift, weil die konservativen Kräfte jetzt in beiden Kammern des Parlaments eine Zweidrittelmehrheit haben.Abe hat sein Ziel, die Deflation zu überwinden, aber nicht aus den Augen verloren. Doch seine rechte Agenda ist ihm wichtiger. Lockere Geldpolitik und staatliche Mehrausgaben stützen die Konjunktur, damit die Bevölkerung die Abkehr vom Pazifismus und den Pro-Atomkraft-Kurs schluckt. Also sollte man von Abe keine ökonomische Prinzipientreue erwarten. Eigentlich müsste er Renten und Sozialleistungen kürzen und Steuern erhöhen, um die Staatsschulden unter Kontrolle zu bringen. Stattdessen lässt er lieber die Notenbank einen Großteil der Staatsanleihen aufkaufen und verschiebt den Steuerschritt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.