Geldpolitik

Warum die Deutschen wirklich sauer auf die EZB sind

Deutschland ist eines von nur drei Ländern des Euroraums, in denen die Bevölkerung der EZB weniger Vertrauen entgegenbringt als ihrer nationalen Regierung. Die Deutschen mögen den Euro, aber nicht die EZB.

Warum die Deutschen wirklich sauer auf die EZB sind

Die Inflation im Euroraum hat die psychologische Marke von 5% erreicht. In Deutschland kletterte sie Ende 2021 sogar noch höher. Die inflationäre Entwicklung wird die hierzulande vorherrschenden Zweifel an der EZB noch verstärken. Deutschland ist eines von nur drei Ländern des Euroraums, in denen die Bevölkerung der EZB weniger Vertrauen entgegenbringt als ihrer nationalen Regierung. Das liegt nicht daran, dass die Deutschen von Natur aus euroskeptisch sind. Im Gegenteil, die Unterstützung für die Währungsunion ist höher als im Durchschnitt des Euroraums. Die Deutschen mögen den Euro, aber nicht die EZB.

 Wie erklärt sich diese weit verbreitete Frustration über die EZB in ihrem Gastland? Leiden die Deutschen immer noch an der irrationalen Angst vor einer Rückkehr der Hyperinflation der 1920er Jahre, wie manchmal behauptet wird? Ganz und gar nicht. Die Antwort ist viel einfacher: Die Deutschen haben wegen der aggressiven Lockerungsmaßnahmen der EZB einen überproportionalen finanziellen Schaden erlitten. In keinem anderen Land waren die negativen Auswirkungen der EZB-Politik ähnlich ausgeprägt.

 Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass viele Deutsche von den immer niedrigeren Zinsen profitiert haben. Sicherlich werden diejenigen, die ein Portfolio von Wertpapieren und Wohnimmobilien besitzen, lächeln. Aber das sind meist wohlhabende Bürger, die die Großzügigkeit der EZB kaum nötig hatten. Sie sind eine Minderheit, und zwar eine kleinere Minderheit als in anderen Ländern.

 Um die Ursache für die verärgerte Stimmung zu finden, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie sich die finanzielle Realität der meisten Deutschen vom Rest des Euroraums unterscheidet. Eine der sichtbarsten Auswirkungen der Lockerungsmaßnahmen der EZB war der Anstieg der Immobilienpreise. Daten der OECD zeigen, dass die realen Hauspreise in Deutschland zwischen 2015 und 2020 um 31% gestiegen sind, stärker als im übrigen Euroraum. Das kommt den Hausbesitzern zugute. Aber nur die Hälfte aller Deutschen besitzt ein Eigenheim, der niedrigste Anteil in Europa. Und selbst die relativ wenigen deutschen Hauseigentümer haben weniger profitiert als anderswo: Die meisten Hypotheken haben eine Zinsbindung von zehn Jahren. Erst wenn sie fällig werden, würde eine niedrigere Zinsrechnung das verfügbare Einkommen erhöhen.

 Eine Folge des boomenden Wohnungsmarktes sind steigende Mieten, insbesondere in den Städten. Schätzungen zufolge sind die Wohnungsmieten zwischen 2011 und 2021 bundesweit um 58% gestiegen. Mieter haben das Nachsehen. Vier von zehn Deutschen mieten ihre Wohnung zu Marktpreisen. Dies ist die mit Abstand höchste Quote in der Eurozone, die im Durchschnitt bei 19% liegt (ohne Deutschland). Von allen Mietern im Euroraum mit gewerblichen Vermietern leben 42% in Deutschland.

 Im Jahr 2020 war ein Fünftel der deutschen Bevölkerung mit den Wohnkosten überfordert. Laut EU-De­finition sind das Haushalte, die mehr als 40% des verfügbaren Einkommens für das Wohnen ausgeben müssen. Im Rest der Eurozone trifft dies auf weniger als 11% der Haushalte zu. Nur in Griechenland ist die Situation noch besorgniserregender. Und seit Beginn der superakkommodierenden EZB-Politik ist der Druck auf die Wohnkosten in Deutschland schneller gewachsen als in allen anderen Ländern des Eurogebiets.

Galoppierende Wohnkosten

Die galoppierenden Wohnkosten sind nicht der einzige Grund, der viele Deutsche wütend macht. Es ist ein gängiges Klischee, dass Deutschland eine Nation von Sparern ist. Sowohl kulturelle als auch demografische Gründe sorgen dafür, dass die Sparquote weiterhin hoch ist. Unmittelbar vor dem Ausbruch der Pandemie lagen die Ersparnisse der deutschen Haushalte bei über 18% des verfügbaren Einkommens. Das ist der zweithöchste Wert in der Eurozone und viel höher als die 12% in der übrigen Eurozone. Entgegen dem Trend in der Eurozone ist die deutsche Sparquote sogar gestiegen, seit die EZB mit der Lockerung der Geldpolitik begonnen hat, vermutlich um die niedrigeren Renditen auszugleichen.

 Infolge der anhaltend hohen Sparquote ist Deutschland ein Nettogläubiger gegenüber dem Rest der Welt in Höhe von 2 Bill. Euro (2020). Der Rest des Euroraums befindet sich in einer ähnlich großen Nettoschuldnerposition. Die Lockerung der Geldpolitik begünstigt Schuldner gegenüber Gläubigern. Daher gibt es in einem Gläubigerland wie Deutschland wahrscheinlich mehr Bürger, die zu den Verlierern als zu den Gewinnern gehören, während in den meisten anderen Ländern der Eurozone das Gegenteil der Fall ist.

 Die meisten Deutschen sind nicht nur Verlierer, weil sie fleißige Sparer sind. Ihre Situation wird durch die Tendenz verschärft, in die „falschen“ Instrumente zu investieren: kurzfristige Anlagen wie Bankeinlagen, die direkt an die Tiefstzinsen gekoppelt sind. Das in liquiden Mitteln angelegte Finanzvermögen der Deutschen lag 2018 bei 40% und damit weit über dem Anteil in den anderen großen Euro-Ländern. Die vergleichbare Zahl in den USA lag bei nur 12%. Es ist leicht zu argumentieren, dass die traditionelle deutsche Vorliebe für niedrig verzinste Einlagen keine kluge Portfolioentscheidung ist. Dennoch trägt diese Wahl dazu bei, die Unzufriedenheit der Deutschen mit der EZB-Politik zu erklären.

Das Gespenst von Weimar und die tief verwurzelte Inflationsphobie sind lustige Geschichten, die insbesondere im angelsächsischen Umfeld allzu gerne kolportiert werden. Aber sie sind nicht hilfreich, wenn es darum geht, die vorherrschende EZB-Skepsis zu verstehen.

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