Geldpolitik

Was der Abschied der EZB vom Zinsausblick bedeutet

„Die Forward Guidance ist tot“: Analysten treibt ein Strategieschwenk der Europäischen Zentralbank um. Hinter dem vorgezogenen Ende des Negativzinses stecken neue, beunruhigende Inflationsprognosen.

Was der Abschied der EZB vom Zinsausblick bedeutet

rec Frankfurt

Mit dem vorgezogenen Abschied vom Negativzins haben Europas Währungshüter auch gleich die Ära des Zinsausblicks beendet. „Die Forward Guidance ist tot“, heißt es unter Analysten, nachdem die Europäische Zentralbank (EZB) die Leitzinsen im Euroraum zur Überraschung vieler am Donnerstag gleich um 50 statt der ursprünglich avisierten 25 Basispunkte erhöht hat. Der EZB-Rat verzichtet ab sofort darauf, einen Pfad für die mittelfristige Entwicklung der Leitzinsen zu skizzieren. Stattdessen will er fortan „Sitzung für Sitzung“ entscheiden.

Das ist ein Paradigmenwechsel. Der Zinsausblick – im Notenbankersprech Forward Guidance – war über Jahre eine wichtige strategische Komponente im kommunikativen Repertoire der Währungshüter. Das gilt für EZB und die US-Notenbank Fed gleichermaßen. Das Comeback der Inflation hat die Lage fundamental verändert: Die Federal Reserve musste ihre Zinswende von Mal zu Mal auf zuletzt 75 Basispunkte beschleunigen. Für die Fed-Sitzung nächste Woche steht sogar eine nochmals stärkere Zinserhöhung um einen vollen Prozentpunkt im Raum.

Nun zieht die EZB nach – und lässt in diesem Zuge ebenfalls die Forward Guidance fallen. Dadurch sei man „flexibler“, sagte EZB-Chefin Christine Lagarde. Für Marktteilnehmer bedeutet das weniger Planungssicherheit. Aber die ist spätestens seit dem jüngsten Sinneswandel des EZB-Rats so­wie­so dahin. Am 9. Juni hatte er bei der auswärtigen Sitzung in Amsterdam eine kleine Zinserhöhung um 25 Basispunkte in Aussicht ge­stellt. Sechs Wochen später ist diese Ankündigung Makulatur und der Negativzins Geschichte.

Das Bedauern über die Abkehr vom Zinsausblick hält sich in Grenzen – vielmehr macht sich Erleichterung breit. „Keine Guidance ist besser als schlechte Guidance“, findet Marco Valli, Europa-Chefvolkswirt der italienischen Großbank Unicredit. Für ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski zeigt „das Aufweichen der Forward Guidance, dass sich in den Augen der EZB das Fenster für eine Serie von Zinserhöhungen rasch schließt“. Die Ökonomen der DekaBank erkennen nun „mehr Spielraum, bei einer der anschließenden Sitzungen mit der Erhöhung der Leitzinsen zu pausieren“. Das sei „ein Tribut an die gestiegenen konjunkturellen Abwärtsrisiken“. Und Commerzbank-Devisenexperte Ulrich Leuchtmann sieht sich in seinen Zweifeln bestärkt, ob die EZB genügend Zinserhöhungen folgen lässt. Er vermisst „maximale Entschlossenheit bei der Inflationsbekämpfung“.

EZB-Rat betont „Datenlage“

Mit weiteren Zinserhöhungen ist gleichwohl zu rechnen. Bei den kommenden beschlussfassenden Sitzungen – drei stehen dieses Jahr noch an – werde „eine weitere Normalisierung der Zinssätze angemessen sein“, konstatiert der EZB-Rat. Er hebt die Bedeutung der „Datenlage“ für den künftigen Leitzinspfad hervor.

Womöglich wären die Leitzinsen schon im Juni gestiegen, wären dem EZB-Rat zu diesem Zeitpunkt nicht die Hände gebunden gewesen: Er wollte zunächst die Nettokäufe von Anleihen einstellen, was nicht vor Ende Juni vorgesehen war. Von diesem Versprechen rückte er trotz des schon zu diesem Zeitpunkt eklatanten Inflationsproblems nicht ab. Stattdessen hat er nach zunehmender Kritik die ungewöhnlich explizite Ankündigung einer kleinen Zinserhöhung um 25 Basispunkte kassiert und mehr getan. Die EZB sei offenkundig „mehr um ihre Glaubwürdigkeit als um ihre Vorhersehbarkeit besorgt“, kommentierte Brzeski.

Die Euro-Hüter begründeten ihr Umdenken mit einer „aktualisierten Beurteilung der Inflationsrisiken“. Zwischenzeitlich ist die Inflation neuerlich gestiegen, auf nun 8,6%. Eine wesentliche Rolle dürften auch frische Inflationsprognosen gespielt haben, die die EZB am Freitagvormittag veröffentlicht hat: Laut dem vierteljährlichen Survey of Professional Forecasters (SPF) haben von der Notenbank befragte Ökonomen ihre Inflationsprognosen durchweg angehoben. Für das laufende Jahr erwarten sie nun im Schnitt 7,3% Inflation, 2023 dann 3,6% und 2024 sollen es 2,1% werden. Auch ihre langfristigen Inflationserwartungen auf Sicht von fünf Jahren liegen mit 2,2% über dem EZB-Inflationsziel. Maßgeblich für die Aufwärtsrevisionen seien höhere Energie- und Lebensmittelkosten, aber auch, dass Firmen „höhere Inputkosten stärker als erwartet weitergeben“.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.