Weshalb die EZB die Inflation unterschätzen könnte
Von Martin Pirkl, Frankfurt
Durchschnittlich 11,5% mehr Lohn hat die Gewerkschaft Verdi jüngst für die Mitarbeiter der Deutschen Post erkämpft – den steuerfreien Inflationsbonus von 3 000 Euro gibt es noch obendrauf. Angesichts solcher Meldungen mahnt mancher Ökonom vor einer Lohn-Preis-Spirale, also steigenden Gehältern, die die hohe Inflation weiter befeuern, worauf es zu neuen Forderungen nach einer Lohnerhöhung kommt. Für Philipp Heimberger, Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), droht die Gefahr jedoch von anderer Stelle. „Wenn es zu einer Spirale kommt, die die Inflation verstärkt, dann bei Unternehmensgewinnen.“ Denn trotz steigender Produktionskosten, etwa weil die Energiepreise deutlich höher sind als noch vor einem Jahr, konnten einige Unternehmern ihre Profite erhöhen – unter anderem, indem sie ihre Preise stärker angehoben haben, als die eigenen Kosten gestiegen sind.
Laut einer Untersuchung des Ifo-Instituts haben in Deutschland vor allem Firmen im Handel, Gastgewerbe und Verkehr sowie im Baugewerbe zum Jahresende die Preise überproportional erhöht. „Diese Firmen haben die Lage genutzt, um ihre Gewinne kräftig zu steigern“, sagt Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter der Ifo-Niederlassung in Dresden und Autor der Studie. Für die Analyse hat er die Unterschiede zwischen nominaler und preisbereinigter Wertschöpfung betrachtet. Dadurch ließen sich Rückschlüsse auf Preiserhöhungen ziehen, die nicht durch höhere Vorleistungskosten entstanden sind. Wie hoch genau der Anteil der Preiserhöhung ist, der nicht auf die höheren Kosten für die Unternehmen zurückzuführen ist, lässt sich so jedoch nicht ermitteln. „Zum genauen Einfluss der Inflation auf die Unternehmensgewinne und umgekehrt liegen viel zu wenig Daten vor“, sagt Heimberger.
Ein Blick auf den BIP-Deflator für die Eurozone – bei dem das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) ins Verhältnis zum realen gesetzt wird – zeigt, dass die Profite der Unternehmen durchaus eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Inflationsentwicklung gespielt haben. Der BIP-Deflator lässt sich in eine Lohninflation und eine Profitinflation zerlegen, wobei die gestiegenen Gewinne auch andere Ursachen als Preiserhöhungen gehabt haben können. Der Anteil der Profitinflation an der Gesamtinflation war dabei in allen Quartalen 2022 höher als derjenige der Lohninflation (siehe Grafik). Allerdings nahm die Bedeutung der Löhne zum Jahresende stark zu.
Wichtig für EZB-Rat
Im öffentlichen Diskurs der Europäischen Zentralbank (EZB) werden die gestiegenen Profite kaum thematisiert. Die Äußerungen von EZB-Direktorin Isabel Schnabel vor einigen Wochen, man müsse die Entwicklung der Unternehmensgewinne künftig im Blick haben, ist eines von wenigen Statements dazu. Laut Reuters werde auch innerhalb der EZB bislang nur wenig darüber diskutiert. Auf einer Klausurtagung der Notenbank Anfang März hätten nur Fabio Panetta und Mario Centeno steigende Gewinnmargen angesprochen. „Für die EZB ist es wichtig, die Gewinnmitnahmen genau zu beobachten“, sagt Markus Demary, Senior Economist für Geldpolitik und Finanzmarktökonomik beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Würde dieser Aspekt nicht ausreichend berücksichtigt, könnte die Inflationsentwicklung von der EZB zu positiv eingeschätzt werden.
Für die Notenbank ist es aber auch deswegen wichtig zu wissen, wo die Inflationsursachen liegen, damit sie nicht die falschen Gegenmaßnahmen ergreift. „Wir befinden uns hier in unbekannten Gefilden für die Geldpolitik“, sagt Philipp Heimberger vom WIIW. Die gängigen Wirtschaftsmodelle würden nur die Gefahren einer Lohn-Preis-Spirale kennen, nicht jedoch die einer Profitspirale. Dies beobachtet auch Isabella M. Weber, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst. Die Inflationsentwicklung in den USA würde von den meisten Ökonomen nach Modellen der siebziger Jahre beurteilt. Die Inflation entstehe aus der Dynamik, dass zum einen eine zu hohe Nachfrage auf ein zu knappes Angebot treffe, und zum anderen dadurch, dass die sich im Umlauf befindliche Geldmenge auf zu wenige Güter treffe, die damit gekauft werden können. Steigende Profite würden bei der Inflationsentwicklung nicht betrachtet. „Der Instrumentenkasten der Notenbanken ist in diesem Punkt auch begrenzt“, meint Heimberger. Das klassische geldpolitische Mittel – die Zinserhöhung – ziele auf eine Drosselung der Realwirtschaft ab. Die Ursachen für Preissteigerungen, die die Margen erhöhen, lägen aber vor allem in der jeweiligen Wettbewerbssituation. Unternehmen, die eine gewisse Marktmacht haben, können ihre Preisvorstellungen stärker durchsetzen. Ein Umfeld von hoher Inflation helfe zudem, Preiserhöhungen gegenüber dem Konsumenten besser zu verkaufen. „Die Politik sollte sich die Preissetzung der Unternehmen genau anschauen und feststellen, wo sie mit einer Wettbewerbspolitik gegen das ungebührliche Ausnutzen von marktbeherrschenden Stellungen vorgehen müsste.“
EZB-Chefvolkswirt Philip Lane ist zuversichtlich, dass sich das Thema der steigenden Gewinnmargen von selbst erledigen werde. „Die europäischen Unternehmen wissen, dass sie Marktanteile verlieren, wenn sie die Preise zu stark anheben.“ Auch IW-Ökonom Demary sieht eher keine Profitspirale aufziehen. „Die Unsicherheit ist aber hoch.“