Sachverständigenrat

Wirtschaftsweise wollen ihre Kollegin Grimm kaltstellen

Wegen der Annahme eines Aufsichtsratsmandats bei Siemens Energy wollen vier der fünf Wirtschaftsweisen ihre Kollegin Veronika Grimm wegen Befangenheit aus dem Gremium drängen. Doch das Zerwürfnis geht viel tiefer.

Wirtschaftsweise wollen ihre Kollegin Grimm kaltstellen

Der Streit um die Einschätzung der Regierungspolitik im Rat der Wirtschaftsweisen eskaliert und wird nunmehr persönlich und offen ausgetragen: Ratsvorsitzende Monika Schnitzer sowie drei weitere Mitglieder wollen Veronika Grimm aus dem Beratungsgremium drängen. Anlass hierzu ist ein Aufsichtsratsmandat, das Grimm bei Siemens Energy angenommen hat. Doch der Riss geht offenbar tiefer: Es sind die diametral unterschiedlichen Auffassungen zur Regelungstiefe von Regierungspolitik, zur Rolle des Staates und des Marktes, der Haltung zur Energie- und Transformationspolitik – der Atomkraft dabei im speziellen – und im weitesten Sinne um den immerwährenden Streit über eher angebots- oder nachfragepolitische Ansätze in der Wirtschaftspolitik. Differenzen, die in einem Gremium, das paritätisch zwischen Regierung, Ländern, Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter besetzt wird und dem damit grundlegende Streitthemen bereits in die Wiege gelegt werden, eigentlich intern ausgetragen werden sollen und bisher auch wurden.

In einer Mail, die auch an die Bundesregierung und an Siemens Energy ging, legen Schnitzer, Achim Truger, Ulrike Malmendier und Martin Werding ihrer Kollegin Grimm den Rücktritt nahe wegen der Annahme des Aufsichtsratsmandats bei Siemens Energy. Damit seien „Interessenskonflikte“ verbunden bei Themen, die für die zukünftige Arbeit des Sachverständigenrats von zentraler Bedeutung sein würden, heißt es. Beispiele wurden in der Mail an Siemens-AR-Chef Joe Kaeser dargelegt. Zwar gebe es bislang keine Compliance-Regeln, aber man sehe voraus, dass auch solche Regeln „keine praktikable Lösung“ für die möglichen „sehr weitgehenden“ Interessenkonflikte darstellen würden. Grimm solle sich zwischen dem Mandat des Sachverständigenrats und dem bei Siemens Energy entscheiden.

"Haben ein größeres Problem"

In einem aktuellen Interview legte die Wirtschaftsweise Malmedier noch einmal nach: „Ich und auch die anderen drei Ratsmitglieder machen uns in diesem Fall große Sorgen“, sagte die Ökonomin der „Zeit“. Denn wenn „wir Veronika in Zukunft von Beratungen über grünen Wasserstoff oder Windenergie ausschließen müssen, wäre das eine Katastrophe, das ist ja ihr Fachgebiet“. Und wenn sie das damit verbundene Problem nicht sehen würde und sagte „nee, ihr müsst mich gar nicht ausschließen“, dann so Malmedier „haben wir ein noch größeres Problem“.

Und in einer öffentlichen Stellungnahme räumten die vier Grimm-Kritiker zwar ein, dass das Sachverständigenratsgesetz von 1963 zwar die Wahl eines Mitglieds in einem Aufsichtsrat nicht ausschließe, allerdings habe die Sensibilisierung von Compliance-Themen in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen zugenommen. "Die Mehrheit im Sachverständigenrat Wirtschaft sieht die Nominierung von Veronika Grimm in den Aufsichtsrat von Siemens Energy als Auszeichnung", heißt es. "Gleichwohl stellt diese Nominierung den Sachverständigenrat vor eine Herausforderung".

Grimm weist Forderungen zurück

Grimm reagierte umgehend und weist sowohl die Vorwürfe als auch die Forderungen ihrer Ratsmitglieder zurück: „Wie ihr wisst, ist die Mitgliedschaft in einem Aufsichtsrat einer deutschen Aktiengesellschaft nicht zu beanstanden“, schreibt sie in ihrer Antwortmail. Dies sei im Vorfeld ihrer Nominierung von den Bundesministerien und von Siemens Energy geklärt worden. Grimm: „Die Compliance-Fragen wurden umfassend und sorgfältig geprüft.“

Die Wirtschaftsweise erhält insofern auch Unterstützung vom Bundesministerium der Finanzen und darüber hinaus von früheren Ratskollegen. Aus Sicht des Bundesfinanzministeriums sprächen keine rechtlichen Gründe gegen ein mögliches Doppelmandat und damit für einen Ausschluss der Ökonomin aus dem Sachverständigenrat, erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch aus der Behörde.

Ex-Ratsvorsitzender Bert Rürup zeigte sein Unverständnis über den Vorgang. Die „Entweder-oder-Forderung“, ergebe zudem wenig Sinn. Denn wenn Frau Grimm das Aufsichtsratsmandat bei Siemens Energy nicht annehme, würde sich an ihrer wissenschaftlichen Einschätzung zur Energiepolitik der Bundesregierung auch nichts ändern. Und Rürup ergänzt: „Es disqualifiziert doch keinen Wissenschaftler, wenn er in einem Unternehmen eine Kontrollfunktion ausübt.“

AR-Mandate früher akzeptiert

Der frühere Wirtschaftsweise Volker Wieland sieht in einem Mandat ebenfalls kein Problem. Ein Aufsichtsrat kontrolliere ein Unternehmen, er führe es nicht. Wissenschaftler in Aufsichtsräten gebe es obendrein öfters, das sei „positiv für den Rat, da man praktische Einblicke in die Realität der Wirtschaft bekommt.“ Es hält es auch verkehrt von „Befangenheit“ zu sprechen, weil „der Rat nur berät und keine Verwaltungsentscheidungen trifft“.

RWI-Chef Schmidt stützt Grimm

Auch der frühere Ratsvorsitzende Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen, verweist darauf, dass ein Aufsichtsrat in einem deutschen "Two-tier"-System anders als in der angelsächsischen Welt gerade "keine operative Tätigkeit" ausführe. Die unterstellte "Befangenheit" hält er für zweifelhaft: "Warum ihre Stimme aufgrund der AR-Mitgliedschaft in Diskussionen des Rates zur Energiepolitik oder anderen wirtschaftspolitischen Themen und weniger wertvoll sein sollte als vorher, erschließt sich mir nicht." Er verweist auf Ratskollegen Truger, der sich ebenfalls in die Diskussionen des Rates zur Arbeitsmarktpolitik einbringe, was ihm völlig zu Recht nicht verweigert würde, nur weil er auf Vorschlag der Gewerkschaften im Rat sitze. Überdies gehöre es zur DNA des Sachverständigenrates, dass jedes Ratsmitglied das Recht habe, von der Mehrheit abweichende Meinung zu äußern.

Auch früher haben Ratsmitglieder bekanntermaßen bereits Aufsichtsratsmandate übernommen, ohne dass dies zu Zerwürfnissen oder Befangenheitsbefürchtungen im Gremium geführt hatte: Wolfgang Franz saß im Rat von EnBW, Jürgen Donges bei der Mannesmann AG und Beatrice Weder die Mauro bei Thyssenkrupp.

Zerwürfnis über Ampelpolitik

Hintergrund des jetzt ausgetragenen Streits ist daher wohl eher, dass der Rat in seiner Mehrheitsmeinung zuletzt immer mehr auf den Kurs der Bundesregierung eingeschwenkt ist. Inhaltlich gelten die Ratsvorsitzende Schnitzer und Ratsmitglied Grimm dabei als Antipoden etwa bei ihrer Einschätzung in Sachen Schuldenbremse, Steuererhöhungen oder Subventionen sowie Energiepolitik. Intern soll Grimm im Rat vorgeworfen worden sein, die ohnehin vorhandene „überzogene“ Regierungskritik durch ihre Äußerungen nur noch zu verstärken.

Gremium ökonomischer Vielfalt

Dabei ist der Rat allein schon von der Zusammensetzung her ein Gremium, das auch die Meinungsvielfalt innerhalb der ökonomischen Zunft zum Ausdruck bringen soll. Der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, wie er in Gänze heißt, hat fünf Mitglieder, die vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung jeweils für die Dauer von fünf Jahren berufen werden. Traditionsgemäß wird jeweils ein Mitglied auf Vorschlag des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft („Arbeitgeberticket“) und der Gewerkschaften („Gewerkschaftsticket“) berufen. Mitglied auf dem Arbeitgeberticket ist aktuell Martin Werding, während Achim Truger auf Vorschlag der Gewerkschaften im Rat sitzt.

Auch früher gab es zahlreiche Meinungsverschiedenheiten im Rat, die auch in der Debatte ausgetragen wurden. Viele „Minderheitsvoten“ des ehemaligen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger künden etwa von der Fähigkeit des Gremiums, unterschiedliche Meinungen zu akzeptieren und teilweise auch zu integrieren. Zumal eine Beratung auf einem breiten ökonomischen Meinungsmarktplatz bislang keine klaren Voten ausgeschlossen hat, Unterschiede in den Einschätzungen noch besonders deutlich gemacht haben und daher umso wertvoller ist.