Ankunft ausländischer Übel
Die Konsumenten in Japan gelten als anspruchsvoll, denn sie wünschen sich eine hohe Qualität zu niedrigen Preisen. Hier kommen die 100-Yen-Shops ins Spiel, wo jede Ware 100 Yen (0,70 Euro) kostet, ohne jedoch auf Ramschniveau zu sein. Anders als die typischen Dollar-Stores in den USA richten die 100-Yen-Shops ihr Sortiment nämlich auf Kunden verschiedener Einkommensstufen aus und verstehen sich als Minikaufhaus mit einem breiten Sortiment, das von Kosmetik und Schreibwaren über Küchenartikel und Textilien bis zu Lebensmitteln und Tierfutter reicht.
Während der vergangenen fast drei Jahrzehnte mit stagnierenden oder leicht fallenden Preisen in Japan breiteten sich diese 100-Yen-Shops rasant aus. Die heute über 8400 Läden setzen jährlich 950 Mrd. Yen (6,7 Mrd. Euro) um. Die Mehrzahl der Artikel importieren die Betreiber aus Niedriglohnländern wie Vietnam. Durch hohe Stückzahlen gleichen sie die geringe Gewinnspanne aus. Doch nun lassen die gestiegenen Energie-, Material- und Transportkosten sowie die starke Abwertung des Yen dieses Geschäftsmodell wanken. Viele Zulieferer erhöhen ihre Preise. Ein Endverkauf zu 100 Yen wird immer schwieriger. Eine Antwort lautet „Shrinkflation“ – die Packungsinhalte schrumpfen. Auch die ersten Betreiber geben auf: Ende Mai schloss der Anbieter Prodire alle neun Filialen in Tokio.
Der einfachste Ausweg wäre eine Anhebung des Endverkaufspreises. Ohnehin zahlt man für jede Ware schon bis zu 110 Yen, da die Umsatzsteuer an der Kasse aufgeschlagen wird. Doch der Anbieter Daiso mit den meisten 100-Yen-Shops will die runde Preismarke verteidigen, ohne die Produktqualität zu verringern. Eine andere Warenmischung und weniger ausländische Importe sollen die Gewinnmarge stabilisieren, eine eigene Fabrik in Japan ist geplant. Damit verhält sich Daiso typisch japanisch: Laut einer Umfrage des Datenanbieters Teikoku trauen sich nur 44% der Unternehmen zu, höhere Kosten an den Endkäufer weitergeben zu können.
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Außer der Inflation macht sich neuerdings noch ein anderes globales Gespenst in Japan breit – die digitale Erpressung, also der Einsatz von Schadsoftware, um Daten auf infizierten Computern zu verschlüsseln und damit Unternehmen lahmzulegen. Nur wenn sie ein „Lösegeld“ zahlen, wird die Zugangsblockade von außen wieder aufgehoben. Cyberkriminelle attackieren gerne die Bereiche Medizin, Erziehung, Infrastruktur und Finanzen, da von ihren Dienstleistungen viele Bürger abhängig sind. In der Vergangenheit konzentrierten sich die Banden, die oft aus Russland und Osteuropa operieren, auf die USA und Europa. Aber viele Institutionen und Unternehmen können solche Angriffe inzwischen besser abwehren und lassen sich nicht mehr so schnell einschüchtern, so dass sich für die Hacker der Aufwand immer weniger lohnt und sie sich nach neuen Opfern umsehen.
Dabei ist Japan in ihr Visier geraten, das sich als unerwartet fruchtbarer Acker entpuppt. Denn ihre Schadsoftware schleusen die Hacker in der Regel über Dateianhänge ein, die sie in einer Mail an vertrauensselige Mitarbeiter ihres Erpressungsziels schicken. Anders als früher verspricht diese Methode inzwischen mehr Erfolg: Die Übersetzungssoftware für Japanisch ist nämlich so gut geworden, dass selbst Muttersprachler kaum Fehler finden. In der Folge ist die Zahl dieser Cyberattacken stark gestiegen. Dazu kommt, dass Computer in japanischen Firmen und Organisationen häufig auf dem Sicherheitsstand von vorgestern sind. So löste die Nachricht von vergangener Woche, dass Microsoft die Unterstützung für den Webbrowser Internet Explorer endgültig eingestellt hat, in Japan hohe Schockwellen aus.
Bei einer Umfrage im März berichtete jede zweite Organisation, sie würde diesen Browser noch benutzen, obwohl dessen letztes Update vor neun Jahren stattfand. Zum Beispiel empfiehlt die staatliche Rentenversicherung, für optimale Eingaben auf ihren Webseiten den Internet Explorer zu verwenden. Die Umstellung auf eine andere Software wie Google Chrome werde Japan „monatelange Kopfschmerzen“ verursachen, orakelte die Finanzzeitung „Nikkei“ düster.