London

Anstehen und Anstand

Vordrängeln geht gar nicht. Wer zuerst kam, ist automatisch der Kopf der Schlange. „Ein bisschen Geduld schadet Ihnen nicht“, heißt es auf einem Plakat des Londoner Nahverkehrsbetreibers TfL.

Anstehen und Anstand

Schlangestehen ist eine Kunst, zumindest in Großbritannien. Ob an der Bushaltestelle oder beim Bäcker: Vordrängeln geht gar nicht. Ordentlich stellt man sich an und achtet dabei auch darauf, den nötigen Abstand zum Vordermann zu halten. Wer zuerst kam, ist automatisch der Kopf der Schlange. „Ein bisschen Geduld schadet Ihnen nicht“, heißt es auf einem Plakat des Londoner Nahverkehrsbetreibers TfL, „Habt Geduld mit anderen“ auf einem anderen. Für Besucher der Tennis Championships in Wimbledon gab es eine 19-seitige Einführung unter dem Titel „A Guide to Queuing“. Wie weit ihre Langmut reicht, demonstrierten zuletzt all die Briten, die bis zu 22 Stunden anstanden, um Queen Elizabeth II die letzte Ehre zu erweisen, unter ihnen auch David Beckham, der ehemalige Kapitän der englischen Nationalmannschaft. Susanna Reid, die Moderatorin von „Good Morning Britain“, wartete sieben Stunden, um sich mit ihrer Mutter von der Königin zu verabschieden.

Entsprechend schlecht kam in der Öffentlichkeit an, dass ihre beiden ITV-Kollegen Holly Willoughby (41) und Phillip Schofield (60) von „This Morning“ angeblich Gebrauch von ihrem VIP-Status machten, um nicht so lange warten zu müssen. Der Raum, den das Thema in der Berichterstattung der britischen Medien einnahm, und die Tiefe der Recherche zeugen von der gesellschaftlichen Bedeutung der Schlange in Großbritannien. Eine Online-Petition für die Entlassung von Schofield und Willoughby fand bislang mehr als 73 000 Unterzeichner. Der Sender stellte sich hinter die beiden. „Wie Hunderte von akkreditierten Rundfunkleuten und Journalisten hatten wir eine Sondergenehmigung, die Halle zu betreten“, rechtfertigte sich Willoughby. „Es ging ausschließlich darum, für Millionen von Menschen im Vereinigten Königreich über das Ereignis zu berichten, die nicht selbst nach Westminster kommen konnten.“ Man habe niemandem seinen Platz in der Schlange weggenommen und sich an die Regeln gehalten.

Am Ende waren in der Sendung an diesem Tag allerdings nur Bilder aus dem offiziellen Feed zu sehen, denn darüber hinaus erhielt niemand eine Drehgenehmigung. Die „Mail on Sunday“ berichtete, ihre Namen hätten nicht auf der Akkreditierungsliste gestanden. Der Sender wolle die persönlichen Kontaktdaten seiner Stars nicht herausgeben, deshalb seien die E-Mail-Adressen anderer Mitarbeiter angegeben worden. Es habe Diskussionen gegeben, berichtet das Blatt unter Berufung auf eine mit dem Vorgang vertraute Quelle, aber schließlich habe man sie durchgelassen. Das Blatt zitierte auch aus einer Twitter-Nachricht einer Frau, die darin berichtet, ihre im Rollstuhl sitzende Mutter sei zur Seite geschoben worden, um Platz für die beiden TV-Persönlichkeiten zu machen. Mittlerweile wurde der Tweet allerdings gelöscht.

Mehr noch als das Vordrängeln, ob nun vermeintlich oder real, sorgte die Entschuldigung der beiden für Unmut. „Ich wette, dass sie auch um die Welt reisen, damit andere das nicht tun müssen“, kommentierte ein „Telegraph“-Leser einen „Queuegate“-Be­richt. „Und sie gehen lecker essen, weil wir uns das nicht leisten können. Ihre Güte kennt keine Grenzen.“ Domino’s Pizza versuchte das Ereignis werblich zu nutzen und twitterte: „Wir entschuldigen uns bei allen, die auf ihre Pizza warten, aber wir haben gerade eine Bestellung von Holly & Phil erhalten.“ Die Touristenattraktion London Dungeon bot allen Besuchern einen „Holly & Phil Pass“ an. Motto: „Machen Sie keinen Smalltalk mit dem erbärmlichen Pöbel, der geduldig wartet, wenn Sie auf dem Weg an die Spitze der Schlange sein könnten.“ Andernorts wurde in entwürdigender Weise gegen Schofield und Willoughby gegeifert. Unterstützung erhielten sie dagegen von unerwarteter Seite. Die stellvertretende Labour-Parteichefin Angela Rayner nannte die giftigen Online-Attacken auf die Moderatoren „wirklich schädlich“. Sie mache sich Sorgen um die beiden, sagte sie auf dem Labour-Parteitag in Liverpool. Aber es ging ihr wohl in erster Linie darum, Internetunternehmen an die kurze Leine zu nehmen: „Es ist Zeit, dass wir Gesetze erlassen.“ Vielleicht ist es auch Zeit, den ganzen Vorfall einfach zu vergessen. So wie das, was Holly & Phil in ihrer Show so erzählen, schon kurz danach vergessen ist.

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