Im BlickfeldAlternativen zum BIP

Auf der Suche nach einem Maß für Wohlstand

Das Bruttoinlandsprodukt ist als Indikator für das Wohlergehen einer Gesellschaft in der Kritik. Es gibt immer mehr alternative Messgrößen – doch stehen auch diese vor Herausforderungen.

Auf der Suche nach einem Maß für Wohlstand

Auf der Suche nach einem Maß für den Wohlstand

Von Martin Pirkl, Frankfurt

Das BIP ist als Indikator für das Wohlergehen einer Gesellschaft in der Kritik. Es gibt immer mehr Alternativen, doch stehen auch diese vor Herausforderungen.

Der kleine asiatische Staat Bhutan, mitten im Himalaya gelegen, misst den Wohlstand seines Volkes nicht primär am Bruttoinlandsprodukt (BIP), sondern am sogenannten Bruttonationalglück. Darin fließen 33 Indikatoren positiv oder negativ ein, wie Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem, Bildungsstand der Bevölkerung, Umweltschäden oder das psychologische Wohlbefinden der Menschen. Um diese Daten zu sammeln, befragen die Statistiker des Landes alle drei bis fünf Jahre eine repräsentative Stichprobe der rund 800.000 Einwohner.

Die Daten fließen in einen aggregierten Wert, der zwischen 0 und 1 liegt. Sind alle glücklich, beträgt er 1. Aufschlussreicher sind jedoch die Zahlen zu den Unterkategorien. „Dies ist ein gutes Instrument, um etwa regionale Ungleichheiten auszugleichen“, sagt Christian Wagner, Südostasienexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Geben etwa in einem Landesteil viele Menschen an, dass sie zu Fuß über eine Stunde zur nächstgelegenen medizinischen Einrichtung brauchen, kann der Staat dort eine neue bauen.

Vorreiter Bhutan

In einigen Aspekten ist das Bruttonationalglück aus deutscher Perspektive fragwürdig. So definiert der bhutanische Staat darin etwa, dass die Bevölkerung glücklicher ist, wenn sie regelmäßig betet oder meditiert. Fragen danach, wie oft man Angst verspürt oder sich großzügig verhält, dürften viele Deutsche gegenüber Statistikern ungern beantworten. „Das ist aus westlicher Sichtweise schon leicht übergriffig“, sagt Wagner. Dennoch schauen Glücksforscher oder auch Bundeskanzler Olaf Scholz wohlwollend auf den Ansatz. „Bei der Messung von Wohlstand spielt Bhutan eine Vorreiterrolle“, meinte Scholz im März anlässlich eines Treffens mit dem bhutanischen Ministerpräsidenten Lotay Tshering in Deutschland.

Während die Pilotbefragung in Bhutan vor fast 20 Jahren über die Bühne lief, sind staatliche Konzepte einer alternativen Wohlstandsmessung in Deutschland noch recht neu. Dabei ist die Kritik am BIP als Wohlstandsindikator bereits ziemlich alt. „Als Wohlstandsindikator ist das BIP allein ungeeignet“, sagt Sven Giegold, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium (BMWK), auf Anfrage der Börsen-Zeitung. „So steigert ein gefällter Baum oder die Krankenhausbehandlung eines Menschen das BIP, während ein lebendiger Baum oder ein gesunder Mensch keinen Einfluss auf das BIP hat. Deshalb brauchen wir für eine Erneuerung unseres Wohlstands ergänzte Indikatoren“, meint Giegold über das Vorhaben von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).

Das BIP erfasst den Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen nach Abzug der Vorleistungen – also in Giegolds Beispiel etwa auch die Krankenhausrechnung und die Produktion der Medizin. Ihren Siegeszug startete die leicht verständliche Kennziffer in der Nachkriegszeit. Also einer Zeit, in der Klimawandel noch kein gesellschaftliches Thema war und die Zunahme des materiellen Wohlstands in den von Krieg gebeutelten Ländern für die Gesellschaft von noch größerer Bedeutung war als heute. Dadurch wurde das BIP in der öffentlichen Wahrnehmung vom Index für die Wirtschaftsleistung zum Index für den Wohlstand einer Gesellschaft. Für das Bundeswirtschaftsministerium ist diese Ansicht nicht mehr zeitgemäß.

Nachholbedarf in Deutschland

Im Jahreswirtschaftsbericht 2022 des BMWK gab es daher erstmals ein Sonderkapitel mit dem Namen „Nachhaltiges und inklusives Wachstum – Dimensionen der Wohlfahrt messbar machen“. 30 Indikatoren betrachtet das Ministerium. Sie sollen Aufschluss darüber geben, in welchen Bereichen der Wohlstand in Deutschland steigt und wo es noch Nachholbedarf gibt. Mit dabei waren unter anderem, wie viele Unternehmen Produkt- oder Prozessinnovationen entwickelt haben, der Anteil der erneuerbaren Energien oder wie viel Prozent der Bevölkerung mehr als 40% ihres verfügbaren Haushaltseinkommens für Wohnen ausgeben müssen. Anders als in Bhutan wird hierfür nicht extra die Bevölkerung befragt, sondern mit bereits verfügbaren Daten gearbeitet. Außerdem fließen die ausgewerteten Statistiken am Ende nicht in einen aggregierten Wert, der das Ausmaß des erreichten Wohlstands abbilden soll.

„Es gibt bei der alternativen Wohlstandsmessung zwei Stränge“, sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). „Der eine Ansatz ist ein Komposit-Indikator, ein Wert fasst alle Einzelindikatoren zusammen. Der andere Ansatz ist ein sogenannter Dashboard-Approach. Wie beim Armaturenbrett im Auto zeigen viele verschiedene Einzelindikatoren an, wie der Zustand ist. Das BIP ist dann nur einer dieser Werte.“

Auch das IMK veröffentlicht in Zusammenarbeit mit der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) eine alternative Wohlstandsmessung. Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) entwickelte sich dabei in den vergangenen 30 Jahren deutlich anders als das Bruttoinlandsprodukt (siehe Grafik). Während das BIP in Deutschland in diesem Zeitraum um rund 40% zugelegt hat, ist der NWI kaum gestiegen – 2021 lag er sogar unter dem Wert der Jahrtausendwende. Die Corona-Pandemie oder auch die Flutkatastrophe im Ahrtal haben den NWI gesenkt. Beim BIP sieht es anders aus. So haben etwa die Aufbauarbeiten in der Region nach der Flutkatastrophe die Summe der erbrachten Dienstleistungen und produzierten Güter in Deutschland gesteigert und damit auch das Bruttoinlandsprodukt. Zudem wirken sich die Umweltschäden nicht negativ aus, da das BIP diese nicht erfasst.

Umwelt fast immer dabei

Anders ist das beim NWI und anderen alternativen Wohlstandsmessgrößen. „Es ist am Ende ziemlich subjektiv, welche Aspekte in so einen Wohlstandsindikator einfließen. Aber eigentlich alle erfassen den Bereich Umweltschutz“, sagt Dullien. Doch wie quantifiziert man Themen wie Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit? „Es ist schwer zu beziffern, was es beispielsweise wert ist, dass eine bestimmte Insektenart noch nicht ausgestorben ist“, sagt Dullien. Zudem fehlen gerade für den Bereich Biodiversität oft Daten. „Es gibt Daten dazu, wie häufig bestimmte Singvögel gesichtet werden“, sagt der IMK-Direktor. „Aber sowas bildet die Biodiversität nur sehr grob ab.“

Beim NWI fließen die Kosten unter anderem durch Luftverschmutzung, Treibhausgase, Naturkatastrophen oder Wasserbelastung negativ ein. Je höher sie sind, desto niedriger ist der durch den NWI gemessene Wohlstand. Beim Bundeswirtschaftsministerium sind die Indikatoren teilweise sehr ähnlich, wie etwa der Anteil an Messstellen, die im Wasser nur geringe Nitratwerte feststellen. Zum Teil betrachtet das Ministerium jedoch auch ganz andere Punkte beim Thema Umwelt, zum Beispiel wie viel pro Einheit eingesetzter Energie an Gütern produziert wird – wie hoch also die Energieeffizienz in der Produktion ist.

Der Index des IMK ist nur einer von sehr vielen weltweit. Der Direktor der UN-Statistikabteilung, Stefan Schweinfest, hat auswerten lassen, wie viele Indikatoren inzwischen bereits im Umlauf oder in der Planung sind. „Wir kamen auf über 500 Initiativen, die es weltweit gibt, um da neue Indikatoren zu entwickeln. Und das ist natürlich erst mal etwas erschreckend. Auf der anderen Seite deutet es darauf hin, dass es da auch einen Bedarf gibt. Und die gute Nachricht ist eben auch, dass wir da auch sehr viel haben, auf das wir schon aufbauen können“, sagte er gegenüber dem „Deutschlandfunk“.

Wohlfahrtshaushalt

Ein anderer Vorreiter beim Thema Wohlfahrtsmessung neben Bhutan ist Neuseeland. Im Mai 2019 verabschiedete Neuseeland als erster Staat der Welt einen sogenannten Wohlfahrtshaushalt. Anlass war, dass der Südwestpazifik-Staat im Jahr zuvor die höchste Suizidrate seit Jahrzehnten hatte. Daher definierte die Regierung fünf Ziele und bewertete alle staatlichen Ausgaben danach, inwieweit sie dazu beitragen, diese Parameter zu verbessern. Die Ziele, auf die sich die Politiker einigten, waren die Verbesserung der mentalen Gesundheit der Bevölkerung, eine geringere soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zwischen der europäischstämmigen Bevölkerungsmehrheit und dem indigenen Volk der Maori, weniger Kinderarmut, Fortschritte bei der Digitalisierung und mehr Nachhaltigkeit. Die Wohlfahrtsziele hat Neuseeland in den folgenden Jahren leicht angepasst und beispielsweise den Aspekt der Gesundheit auch auf das physische Wohlergehen der Menschen ausgeweitet.

Die Ministerien sind in ihren Haushaltsvorschlägen dazu verpflichtet, darzulegen, wie ihr Finanzierungsantrag Fortschritte in den einzelnen Kategorien erzielt. Dazu verwendet die Regierung ein eigens dafür entworfenes Kosten-Nutzen-Analysemodell. Die Suizidrate, der Auslöser der Umstellung, ist seit 2018 deutlich gesunken, von 12,2 pro 100.000 Einwohner auf 10,2. Vor allem bei den Maori ist die Rate stark gefallen, wobei ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Wohlfahrtshaushalt und der geringeren Suizidrate damit nicht bewiesen ist.

Pläne der EU-Kommission

In Europa gibt es nicht nur in einzelnen Staaten Bestrebungen, alternative Wohlstandsgrößen zu definieren, sondern auch in der Europäischen Union. Im Juli legte die EU-Kommission ein Strategiepapier vor, in dem es darum geht, das BIP um weitere statistische Größen zu erweitern. Nach ihren Vorstellungen sollen Daten zu Gesundheit und Umwelt künftig in das BIP einfließen. „Ein überwiegender Fokus auf wirtschaftliche Faktoren, ohne gebührende Berücksichtigung der Qualität des Wachstums und der Qualität der Arbeitsplätze, hat nicht nachhaltige Produktions- und Konsumpraktiken gefördert“, heißt es in dem Strategiebericht. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Gesetzesvorschlag, sondern lediglich um Überlegungen zur Ausrichtung der Unionspolitik. Sie sollen in die Beratungen des EU-Gipfels im Oktober in Spanien einfließen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits im Mai bei der Vorlage der Frühjahrsprognose gesagt, dass Wirtschaftswachstum „kein Ziel für sich“ sei. In einer Sozialen Marktwirtschaft gehe es nicht allein um mehr Wachstum, sondern „auch immer um die Entwicklung der Menschheit“ und „längst nicht nur um Markteffizienz und Liberalisierung“. Eine neue Wohlstandsmessung soll diesem Anspruch nach den Vorstellungen der Kommission Rechnung tragen.

Kritik an der Auswahl

Kritiker stören sich daran, dass die Politik Einfluss auf die Zusammensetzung von statistischen Größen nehmen will. Sie führen an, dass es kaum bis keine objektiven Kriterien gebe, was ein glückliches Leben oder den Wohlstand einer Gesellschaft ausmacht. Dementsprechend viel Spielraum für Willkür oder die Durchsetzung einer politischen Agenda gebe es bei der Auswahl der Indikatoren. Auch bestünde die Gefahr, dass sich die Zusammensetzung bei Messgrößen von einer staatlichen Stelle wie dem BMWK nach jedem Regierungswechsel ändere.

Um bei der Auswahl der Kriterien auch die Sichtweise der Bevölkerung abzubilden, hat das BMWK bis zum 6. September eine Online-Umfrage veranstaltet, bei der die Teilnehmer ihre Meinung zu den bisherigen Kriterien abgeben und Vorschläge für neue machen konnten. Die Ergebnisse sollen in den Jahreswirtschaftsbericht 2024 einfließen.

Auch der Nationale Wohlstandsindex wird regelmäßig angepasst und optimiert. Das IMK räumte in seinem Bericht zum NWI 2022 beispielsweise ein, dass der Index die negativen Auswirkungen der Pandemie, etwa den psychologischen Stress durch die Ausgangssperren, nicht vollständig abbilde – es anders als das BIP jedoch versuche.

BIP weniger vergleichbar als gedacht

Sebastian Dullien führt zudem an, dass die Messung des BIP keineswegs so einheitlich sei, wie viele es annähmen. „International ist die Vergleichbarkeit geringer, als man denkt“, sagt er. „Die Anwendung klafft auseinander.“ So berücksichtigen manche Länder bei der Messung illegale Wirtschaftsaktivitäten wie Umsätze aus dem Drogenhandel – andere klammern dies aus. Und die Staaten, die es berücksichtigen, müssen das Ausmaß schätzen. Verlässliche Daten zur Gesamtheit der illegalen Wirtschaftsaktivitäten gibt es naturgemäß nicht.

Das BIP abschaffen wollen jedoch weder Dullien noch das Bundeswirtschaftsministerium. „Das Bruttoinlandsprodukt bleibt als monetärer Indikator zentral“, sagt Staatssekretär Giegold. „Sein Wachstum bleibt Ziel der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung.“ Bei der Messung des Wohlstands der Gesellschaft sei das BIP jedoch nur ein Indikator von vielen.

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