LeitartikelFrankreichs neue Regierung

Barnier macht sich an die Quadratur des Kreises

Frankreichs neuer Premierminister Michel Barnier steht vor einer politischen Gratwanderung: bei der Regierungsbildung und dem Austarieren der Kräfte danach. Und die Zeit drängt – gerade bei der Haushaltspolitik mit Blick auf die Märkte.

Barnier macht sich an die Quadratur des Kreises

Frankreichs Regierung

Die Quadratur des Kreises

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Von Gesche Wüpper

Frankreichs neuer Premierminister Michel Barnier steht vor einer politischen Gratwanderung.

Das Sommermärchen für Frankreich ist nach dem Ende der Paralympischen Spiele in Paris endgültig vorbei. Doch wer gehofft hatte, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone nach der Berufung eines neuen Premierministers endlich den politischen Stillstand überwindet, in dem sie seit den vorgezogenen Parlamentswahlen verharrt, dürfte enttäuscht werden. Fünf Tage nach seiner Ernennung hat Michel Barnier noch immer keine Regierung zusammengestellt. Zwar ist unwahrscheinlich, dass er sich damit 51 Tage lang Zeit lässt wie Präsident Emmanuel Macron bei der Suche nach einem neuen Premierminister. Dennoch wird der für seine besonnene Art bekannte frühere EU-Kommissar nichts überstürzen. 

Angesichts der komplizierten Mehrheitsverhältnisse in der Assemblée Nationale ist es vernünftig, keine vorschnellen Entscheidungen zu treffen. Denn Barnier steht schon bei der Regierungsbildung vor einer Quadratur des Kreises: Da sich in der Nationalversammlung drei ungefähr gleich große, unversöhnliche Lager gegenüberstehen, muss er bei der Zusammenstellung seines Kabinetts ein subtiles Gleichgewicht finden. Es kommt auf die richtige Dosierung verschiedener Strömungen an, um sich eine möglichst breite Unterstützung im Parlament zu sichern. Sonst droht die künftige Regierung schon an dem Misstrauensantrag zu scheitern, den die linksextreme Partei La France Insoumise (LFI) gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode am 1. Oktober stellen will.  

Parteien im Wahlkampfmodus

Die Regierungsbildung mutet wie ein unlösbarer Auftrag an, so festgefahren sind die verschiedenen Positionen. Kompromisse und Koalitionen haben in Frankreich keine Tradition. Stattdessen befinden sich die meisten Parteien noch immer oder wieder im Wahlkampfmodus. Sie versuchen bereits, sich für die Zeit nach Macron in Stellung zu bringen. Eigentlich stehen die nächsten Präsidentschaftswahlen erst 2027 an, doch einige Abgeordnete schließen so wie Ex-Premierminister Édouard Philippe inzwischen nicht mehr aus, dass sie vorgezogen werden könnten, auch wenn der von LFI gestellte Absetzungsantrag keine Chance hat.

Für Frankreich endet mit der Berufung Barniers eine erste Phase der Unsicherheit. Das nun begonnene neue Kapitel könnte aber noch turbulenter werden. Die Demonstrationen, mit denen am Wochenende mehr als 100.000 Franzosen gegen seine Ernennung protestierten, haben einen kleinen Vorgeschmack darauf gegeben. Seit Macron Anfang Juni Neuwahlen ausgerufen hat, ist die Wut auf ihn in der Bevölkerung weiter gestiegen und teilweise regelrecht in Hass umgeschlagen. Die Linke wirft ihm vor, Barnier mithilfe des rechtsextremen Rassemblement Nationale (RN) berufen zu haben.

Strengerer Sparkurs notwendig

Frankreichs neuer Premier muss aber nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Märkte und die EU-Kommission beruhigen. Die Zeit drängt. Denn eigentlich sollte der Haushaltsentwurf für 2025 bis Freitag, 13. September, dem Hohen Rat für öffentliche Finanzen vorgelegt werden, damit das Parlament ab dem 1. Oktober darüber beraten kann. Zudem muss Frankreich der EU-Kommission bis zum 20. September einen Plan präsentieren, wie es das Defizit bis 2027 abbauen will. Bei beidem sind Verspätungen programmiert.

Damit nicht genug, denn Barnier muss auch verhindern, dass die öffentlichen Finanzen weiter aus dem Ruder laufen. Um abzuwenden, dass das Defizit dieses Jahr von 5,1 auf 5,6% ansteigt, 2025 dann gar auf mehr als 6%, ist ein strengerer Sparkurs nötig. Die Noch-Regierung seines Vorgängers hatte einen Haushaltsentwurf vorbereitet, der auf dem von 2024 basiert. Doch das reicht nicht. Barnier steht daher vor einer brisanten Aufgabe: Er muss mehr sparen, um die Märkte zu beruhigen, dabei aber nicht das ohnehin schwache Wachstum abwürgen. Zugleich geht es darum, die Kaufkraft zu stärken, um die Bevölkerung zu besänftigen. Er hat außerdem versprochen, die Rentenreform Macrons zu überarbeiten, um dem Unmut der linken Volksfront und des RN zu entgehen, die ihre Abschaffung beantragen wollen. Wie all das zusammenpassen soll, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Barniers Aufgabe gleicht deshalb einer Gratwanderung. Doch eine solche ist der aus den Alpen stammende Politiker gewohnt.

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