Strikte Haushaltsregeln verhindern nicht nur Steuergeschenke
Strikte Haushaltsregeln verhindern nicht nur Steuergeschenke
Schlaglöcher, verfallende Schulen, fehlende Krankenhäuser und ein kaputtgespartes Militär zeugen vom Versagen der britischen Form der Schuldenbremse.
Von Andreas Hippin, London
Wenn der britische Schatzkanzler Jeremy Hunt am Mittwoch seinen Haushaltsentwurf dem Unterhaus vorlegt, wird es vor allem darum gehen, ob der konservative Politiker doch noch eine Steuersenkung für seine Anhängerschaft unterbringen konnte. Zu den wenig ambitionierten Varianten, die in den Medien durchgespielt werden, gehört eine weitere Senkung des Beitragssatzes zur Sozialversicherung, eine Einkommensteuersenkung und der Verzicht auf die geplante Erhöhung der Kraftstoffsteuer. Die Schätzungen für den Spielraum, der sich für Hunt aus der zuletzt niedriger als erwartet ausgefallenen öffentlichen Neuverschuldung ergibt, bewegen sich zwischen 10 Mrd. und 23 Mrd. Pfund.
Handeln einer Übergangsregierung
Schlaglöcher, verfallende Schulen und fehlende Krankenhäuser zeugen davon, dass der Staat seinen Aufgaben trotz steigender Steuereinnahmen nicht gerecht wird. Doch Hunt geht es nicht um die Wahlkampftauglichkeit seiner Fiskalpolitik. Er wird mehr darauf achten, nach der weithin erwarteten Niederlage gegen Labour bei den herannahenden Unterhauswahlen ein geordnetes Haus zu übergeben. Rishi Sunaks Kabinett handelt nur noch wie eine Übergangsregierung. Hunt dürfte dabei auch seine politische Zukunft im Auge haben. Schließlich strebte er, anders als etwa Philip Hammond, stets nach Höherem als dem Amt des Finanzministers.
Spielraum schnell aufgebraucht
Nach Schätzung der Resolution Foundation würde eine Senkung der Einkommensteuer um einen Prozentpunkt oder eine entsprechende Erhöhung des persönlichen Steuerfreibetrags mit 7 Mrd. Pfund zu Buche schlagen, eine vergleichbare Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge mit 5 Mrd. Pfund. Für das Einfrieren der Kraftstoffsteuer setzt die Denkfabrik 2 Mrd. Pfund jährlich an. Würde Kindergeld künftig einkommensunabhängig gezahlt, müssten dafür 4 Mrd. Pfund bereitgestellt werden. Damit wäre der fiskalische Spielraum auch schon aufgebraucht.
Höhere Zinsen verteuern Schuldenaufnahme
Die Regierung muss wegen der rasant gestiegenen Zinsen mehr für die Neuverschuldung bezahlen als in früheren Jahren. Wird der Haushaltsentwurf am Markt negativ aufgenommen, gehen die Kosten der Kreditaufnahme noch weiter nach oben. Im kommenden Fiskaljahr, das im April beginnt, wird das Debt Management Office (DMO) nach Schätzung der unabhängigen Haushaltshüter des Office for Budget Responsibility (OBR) mehr Staatsanleihen (Gilts) platzieren als im laufenden Jahr. Sie wird ihre Pläne erst nach Hunts Auftritt vorstellen. Es empfiehlt sich für den Chancellor of the Exchequer also, leise aufzutreten.
Kein Geld fürs Militär
Wie schlecht es um die öffentlichen Finanzen bestellt ist, zeigt sich unter anderem daran, dass der Verteidigungsetat offenbar nicht aufgestockt werden soll, obwohl sich die Bedrohungslage erheblich verschärft hat. Großbritannien lässt in der Regel keine Gelegenheit aus, weitere Waffenlieferungen an die Ukraine zu fordern. Zuletzt sorgten allerdings Berichte für Aufsehen, in denen es unter Berufung auf Marineoffiziere hieß, die Royal Navy könnte gezwungen sein, ihren Flugzeugträger HMS Prince of Wales an Verbündete zu verkaufen, um das Flaggschiff HMS Queen Elizabeth halten zu können. Die Marine dementierte jegliche Verkaufsabsichten. Um die Verteidigungsfähigkeit des Landes ist es schlecht bestellt. An den Streitkräften wurde bereits in der Vergangenheit gerne gespart. Ein Sondervermögen wie in Deutschland wäre keine schlechte Idee.
Haushaltshüter in der Kritik
Solchen Initiativen stehen allerdings die unabhängigen Haushaltshüter des OBR im Weg. Es wurde 2010 vom konservativen Schatzkanzler George Osborne gegründet, um die Ausgabenfreudigkeit künftiger Labour-Regierungen zu dämpfen. Dass es seitdem konservative Regierungen an die kurze Leine nahm, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Trotz seiner Gründung und der großen Beachtung, die seine Bewertung der Haushaltspolitik findet, ist die britische Staatsverschuldung seit der Finanzkrise auf ein Niveau gestiegen, das man nicht für möglich gehalten hätte. Das legt den Eindruck nahe, dass das OBR seiner Aufgabe nicht gerecht wird. Doch es prüft lediglich, ob die Regierung den von ihr selbst aufgestellten Haushaltsregeln gerecht wird.
"Ich fürchte, es ist kein Geld da"
Es war der Labour-Schatzkanzler Gordon Brown, der 1997 erstmals Haushaltsregeln aufstellte, um "einen historischen Bruch mit der Kurzfristigkeit und Zweckdienlichkeit sicherzustellen, von denen die Haushaltspolitik unseres Landes in den letzten Jahren charakterisiert wurde". Doch die Bankenrettungsaktionen während der Finanzkrise mussten durch neue Schulden finanziert werden. Browns Chief Secretary of the Treasury, Liam Byrne, hinterließ 2010 eine handschriftliche Notiz für den neuen Schatzkanzler Osborne: "Ich fürchte, es ist kein Geld da." Das entsprach den Tatsachen, allen vollmundigen Aussagen zur Haushaltsdisziplin zum Trotz. Die Tories nutzten das Schreiben fortan als Beleg für ihre Behauptung, dass Labour nicht mit Geld umgehen könne.
Fehleinschätzung der Lage
Das Institute for Government hat sich angesichts der Debatte darüber, ob man auf Haushaltsregeln nicht einfach verzichten könne, einmal vertieft mit dem Thema auseinandergesetzt und dabei Gründe identifiziert, weswegen der haushaltspolitische Rahmen nicht so gut funktioniert, wie er es vielleicht könnte. Dazu gehört eine falsche Einschätzung der makroökonomischen Situation: In einem Nullzinsumfeld oder im Falle negativer Zinsen muss die Haushaltspolitik die Nachfrage stützen. Sie kann es aber oft nicht, weil sich Regierungen vorgenommen haben, Schulden abzubauen oder die Neuverschuldung zu begrenzen, ohne dabei Ausnahmen zu ermöglichen.
Kurzfristiges Denken
Der Denkfabrik zufolge ist es für Regierungen am einfachsten, an Maßnahmen zu sparen, die sich erst langfristig auszahlen, wie etwa Investitionen. Deshalb förderten schlecht formulierte Haushaltsregeln entgegen ihrer eigentlichen Absicht kurzfristiges Denken. Oft würden politische Entscheidungen getroffen, um die Haushaltsvorgaben buchstabengetreu zu erfüllen, etwa durch den Verkauf von Assets, ohne dass sich dadurch die Nachhaltigkeit der Haushaltspolitik verbessere. Als Beispiel dafür führte der Thinktank den Verkauf von Studienkrediten an. Eine andere Spielart solcher Versuche, die Regeln nur dem Anschein nach zu befolgen, ist die Einplanung von Einnahmen, von denen man schon wisse, dass sie nicht kommen werden.
Die Denkfabrik empfiehlt, Investitionen anders zu behandeln als laufende Ausgaben. Hunt ist kein Javier Milei. Aber wenn man, wie der argentinische Präsident, irgendwo die Kettensäge ansetzen muss, dann sollte man damit den ausufernden Staatsapparat zurechtstutzen, zumindest auf das vor der Pandemie erreichte Niveau. Alles andere ist Kosmetik.