Das Kartenhaus der EZB
Lohnentwicklung
Das Kartenhaus der EZB
Von Martin Pirkl
Nach der erwarteten Zinspause im Juli scheint die EZB auf eine Zinssenkung im September und mehrere Lockerungen bis einschließlich 2025 zuzusteuern. Viel vom Optimismus der Notenbank beim Inflationsausblick fußt allerdings darauf, dass die EZB mit einem sich verlangsamenden Lohnwachstum in den kommenden Quartalen rechnet. Dadurch werde die hartnäckig hohe Dienstleistungsinflation, die maßgeblich von den Lohnkosten beeinflusst wird, zurückgehen. Doch ähnlich einem Kartenhaus kann diese Prognose sehr schnell in sich zusammenfallen. Und sollte dies passieren, müssen sich die Finanzmärkte auf eine deutlich restriktivere Geldpolitik einstellen, als sie es aktuell vermuten – vor allem für 2025.
Zwar erwarten Unternehmen laut mehreren Befragungen der EZB tatsächlich einen geringeren Lohnanstieg in den kommenden Monaten. Außerdem könnte eine schwächere Euro-Konjunktur als erwartet den Spielraum für weitere Preiserhöhungen wegen höherer Lohnkosten verkleinern. Doch einiges spricht auch dagegen, dass sich das Lohnwachstum spürbar abschwächen wird – und mit ihr letztlich die Inflation.
Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer steigt
Die in den vergangenen zwölf Monaten stark gesunkene Teuerung muss mitnichten zu moderateren Lohnforderungen der Arbeitnehmer und Gewerkschaften führen. Nicht nur, weil viele Angestellte angesichts des hohen Kaufkraftverlusts seit 2022 noch einiges an Nachholbedarf haben. Die für viele Unternehmen schwierige Suche nach Mitarbeitern – nicht ausschließlich bei Fachkräften, sondern auch bei Hilfskräften – erhöht die Macht der Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen. Ein anhaltend hohes Lohnwachstum ist unter diesen Umständen alles andere als eine absurde Vorstellung.
Der Blick der Finanzmärkte sollte in den kommenden Monaten daher weniger in Richtung der neuen Inflationsdaten gehen, sondern mehr zu den anstehenden Lohndaten. Am 22. August kommen die Daten der neu ausgehandelten Tariflöhne im zweiten Quartal – zum Jahresstart gab es hier einen Anstieg. Am 6. September stehen neue Daten zu Arbeitskosten und Gewinnmargen an. Auch die Arbeitskosten sind zuletzt gestiegen, ebenso wie der von der EZB viel beachtete Lohnindex der Jobplattform Indeed.
Das Lohnwachstum werde voraussichtlich sinken, bekräftigte Lagarde nach dem Zinsentscheid abermals. Sollte sich das aber als Wunschdenken entpuppen, müssen sich die Finanzmarktteilnehmer auf anhaltend hohe Leitzinsen einstellen.
Studie: Hohe Zinsen belasten deutsche Wirtschaft besonders stark
Finanzmärkte und EZB rechnen mit mehreren Zinssenkungen bis Ende 2025. Doch Vorsicht: Die Prognose fußt auf einer wackeligen Annahme.