Delisting als Blendgranate
Erhobenen Hauptes schreiten sie vom New Yorker Börsenparkett: Eine Handvoll großer chinesischer Staatskonzerne hat simultan verkündet, dass sie ihre Aktien nicht länger an der New York Stock Exchange (Nyse) notiert sehen wollen. Sie bereiten nun den Schritt zum sogenannten Delisting ihrer American Depositary Shares (ADS) vor. Das ist ein im Wesentlichen bürokratischer Akt, der bis zum Oktober vollzogen sein dürfte, wenn alles glatt läuft. Bei den Abwanderern handelt es sich um Chinas größte Ölkonzerne Petrochina und Sinopec, den Aluminiumriesen Chalco und China Life Insurance, die allesamt bereits seit etwa 20 Jahren ein Zweit- oder Drittlisting in New York aufrechterhalten haben. Zusammengenommen kommen sie auf eine beträchtliche Marktkapitalisierung von fast 400 Mrd. Dollar. Der Handel ihrer US-Anteilscheine ist seit jeher extrem dünn, mehr als 90% des Börsenumsatzes in diesen Aktien finden naturgemäß an den Heimatmärkten statt.
Die praktisch gleichlautenden Ankündigungen der fünf Gesellschaften sprechen von einem freiwilligen Schritt. Das Listing in New York gehe mit geringen Handelsumsätzen einher, bedinge aber einen gewaltigen administrativen Aufwand bei der Erfüllung von US-Publizitätsauflagen. Ein künftiger Kapitalaufnahmebedarf lasse sich über die Börsen in Hongkong und Schanghai abdecken. Das klingt nach einem sachlich begründeten und unaufgeregten Finanzmarktkalkül. In der Tat gibt es ja auch zahlreiche europäische Großkonzerne, die schon feststellen durften, dass ihnen das aus Prestigegründen angeleierte Sekundärlisting in New York mit erhofftem Zugang zum US-Kapitalbecken herzlich wenig Investorenaufmerksamkeit, stattdessen aber gewaltigen regulatorischen Aufwand eingebracht hat.
Die wunderbar konzertierte „rein unternehmerische“ Entscheidung der chinesischen Staatsriesen erfolgt allerdings im interessanten politischen Kontext der Pekinger Reaktionen auf den Besuch der US-Politikerin Nancy Pelosi in Taiwan, mit dem ein neues Kapitel in der laufenden Verschlechterung der Beziehungen zwischen China und den USA aufgeschlagen wurde. Zu Chinas „Strafaktionen“ für die USA soll nun ein Signal für die Finanzmarkt-Entkoppelung gehören – mit der Botschaft: Wir kehren der Wall Street den Rücken. Tatsächlich handelt es sich eher um ein plumpes Ablenkungsmanöver in einer Angelegenheit, die Pekings Stolz mächtig verletzt, nämlich die ohnehin drohende Verbannung chinesischer Unternehmen von US-Börsen.
Die USA verlangen seit jeher, dass dort gelistete ausländische Unternehmen besonderen Transparenzpflichten genügen, indem sie US-Prüfern Zugang zu ihren Büchern gewähren. Chinesische Unternehmen dürfen dieser Forderung aber nicht nachkommen, weil Peking aus „Souveränitätsgründen“ einen ausländischen Prüferzugang verbietet. Ein neues US-Gesetz setzt dem ewigen Tauziehen nun aber eine Deadline: Es ermächtigt die SEC, Unternehmen, die sich der Prüferregel widersetzen, ab 2023 von US-Börsen zu verbannen. Das würde dann aber auch große chinesische Tech-Unternehmen betreffen, die mit einem Primärlisting nach New York gekommen sind und in China keine Börsenheimat haben.
Bis Ende dieses Jahres muss eine Regelung gefunden sein, die den Anforderungen der SEC genügt. Der volle chinesische Souveränitätsanspruch und der Anspruch auf vollen Prüferzugang sind nicht miteinander vereinbar. Einer muss weichen. Die SEC wird es nicht sein, weil sie mit glasklaren Regeln seit langem etablierter Prüfungsmechanismen hantiert. Die chinesische Seite hat wegen des völlig diffusen Souveränitätsprinzips vollen Bewegungsspielraum, ist aber in nationalen Eitelkeiten gefangen.
Der erste Abgang einer Handvoll Staatsunternehmen ist nun der Pekinger Schleichweg, um souveräne Entscheidungshoheit zu dokumentieren. Weitere Staatskonzerne mit US-Börsenpräsenz dürften in Kürze folgen. Für sie alle gilt, dass ihr US-Listing tatsächlich unnötig wie ein Kropf ist. Bei den Tech-Unternehmen freilich sieht das anders aus, und ihr förmlicher Rausschmiss würde heftige Verwerfungen mit sich bringen, die die chinesische Regierung nicht gut aussehen lassen. Wahrscheinlich ist das freiwillige Delisting der Staatsunternehmen eine Blendgranate, mit der Peking seine Souveränität unterstreicht, um dann sehr diskret und zähneknirschend dafür zu sorgen, dass die privaten Tech-Konzerne irgendwie doch unter die Prüferregel fallen, ohne der Nation Schande zu bereiten.