Draghi

Der Cheftrainer

Italiens Premierminister Mario Draghi dürfte selbst ahnen, dass er die gewaltige Aufgabe, Italiens jahrzehntelange Blockaden in nur wenigen Monaten zu überwinden, gar nicht bewältigen kann.

Der Cheftrainer

Italien ist euphorisch. Bei der Fußball-Europameisterschaft eilte die Squadra Azzurra eindrucksvoll ins Finale und erlebt, wie bei der WM 1990 im eigenen Land, „notti magiche“. Die Touristen sind zurück, und die Wirtschaft dürfte 2021 um 5% wachsen. Wäre da nur nicht die Delta-Variante!

Das Bel Paese profitiert von extrem günstigen Finanzierungsbedingungen auf den Märkten, weil die Europäische Zentralbank (EZB) großzügig Bonds des Landes aufkauft. Außerdem ist Italien der größte Nutznießer der europäischen Hilfsprogramme, allen voran des europäischen Wiederaufbauprogramms. Insgesamt sind das 235 Mrd. Euro. Die erste Tranche über 25 Mrd. Euro soll noch im Juli fließen. Dazu kommen beträchtliche nationale Mittel.

Das alles, mit Ausnahme der Fußball-Erfolge, liegt an Premierminister Mario Dra­ghi, der im Februar die Regierungsgeschäfte übernommen hat. Der Ex-EZB-Chef war der Garant dafür, dass Italien die Mittel erhält. Er muss nun dafür sorgen, dass das Geld vernünftig verwendet wird und die Voraussetzungen für dauerhaftes und selbsttragendes Wachstum geschaffen werden. Draghi hat sich persönlich dafür verbürgt, dass die Maßnahmen von jahrzehntelang unterbliebenen Reformen begleitet werden – Reformen der Justiz, der öffentlichen Verwaltung, des Wettbewerbsrechts und des Steuersystems. Er handelt entschlossen. Für all das sollen in den nächsten Wochen konkrete Gesetzesvorschläge vorgelegt werden. Doch kann ein bald 74-Jähriger, umgeben von ein paar Technokraten, in wenigen Monaten das hinbekommen, was jahrzehntelang versäumt wurde? Italiens Produktivität ist 20 Jahre lang nicht gewachsen, die Wirtschaft hat stagniert. Nur die Schulden sind ins Unermessliche gestiegen: auf 160% des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr. Ohne die EZB und ohne die EU-Hilfen würde Italien keine Kredite mehr erhalten und am Schuldendienst ersticken.

Die Lage ist dramatisch. Draghi und damit Italien hat mit den EU-Geldern einen Schuss frei. Wenn der danebengeht, wird das Land zum dauerhaften Kostgänger Europas. Draghis Aufgabe ist eine Herkulesaufgabe. Doch der partei- und länderübergreifend respektierte Römer hat intern immer mehr Probleme, sich durchzusetzen. Die Regierungsparteien zerfleischen sich – ob beim Anti-Homophobie-Gesetz oder der Justizreform. Von rechts steht er massiv unter Beschuss der neofaschistischen und europakritischen Fratelli d’Italia, die nicht in die Regierung der nationalen Einheit eingetreten ist und in Umfragen auf Platz 1 liegt. Links machen ihm die Gewerkschaften und die Populisten der 5 Sterne zu schaffen, die die meisten Parlamentarier stellen, aber vor der Spaltung stehen. Die Zahl der Kritiker innerhalb und außerhalb der Regierung wächst stetig, und trotz der üppigen europäischen Hilfen haben europaskeptische Parteien wie die 5 Sterne, die Fratelli d’Italia und Matteo Salvinis Lega eine Mehrheit.

Draghi muss Kompromisse machen. Er verlängert die großzügigen staatlichen Kurz­arbeitsregelungen und teilweise das Kündigungsverbot, das denen hilft, die einen Job haben, aber den vielen Jungen schadet, die keinen haben. Auch staatlich garantierte Kredite helfen über die Runden. Das viele Milliarden verschlingende Grundeinkommen, das helfen soll, den Beziehern eine Beschäftigung zu vermitteln, aber grandios gescheitert ist, soll ausgeweitet werden. Dabei finden deshalb viele Tourismusbetriebe keine Saisonarbeitskräfte, weil viele lieber das Grundeinkommen kassieren und schwarz etwas dazuverdienen. Und: Trotz großer demografischer Probleme wird über eine neue Frühverrentung diskutiert, werden Milliarden in Zombie-Unternehmen wie Alitalia, das Stahlwerk von Ilva und die Pleitebank Monte dei Paschi sowie in Staatsbeteiligungen investiert.

Das stimmt nachdenklich. Draghi macht vieles richtig und hat die Probleme erkannt, aber er kann nicht allein entscheiden. Es gibt dramatische Blockaden in Verwaltung und Justiz. Kriminelle Organisationen wie Mafia und Camorra wollen sich ein Stück vom Kuchen abschneiden. Es kommt hinzu: Draghi hat nur wenig Zeit. Womöglich will er im nächsten Frühjahr für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren. Doch wer und was kommt dann? Populisten, die alles zurückdrehen, sich an keine Vereinbarungen halten? Draghi selbst dürfte wissen, dass das alles gar nicht zu schaffen ist. Er setzt deshalb (auch) auf eine dauerhafte Aussetzung des Stabilitätspakts und eine Verstetigung europäischer Hilfsmaßnahmen. Dabei sucht er die Unterstützung aus Spanien und Frankreich – und hofft, dass Deutschland solche Pläne nicht blockiert.