Die Angst der Politik vor den Wutbürgern
Mehr als ein halbes Jahr nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine zeigen sich die Folgen des Krieges immer deutlicher und heftiger auch in der Wirtschaft der EU und zwingen die Politik, ein Entlastungspaket nach dem anderen zu schnüren. Im Europaparlament haben dennoch immer mehr Abgeordnete den Eindruck, es herrsche in Brüssel trotz allem noch immer viel zu sehr ein Business as usual. Der Ko-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe beispielsweise, der Baden-Württemberger Daniel Caspary, forderte in dieser Woche einen neuen „Whatever it takes“-Moment in der europäischen Politik, also ein klares Signal, dass es eben nicht weitergeht wie bisher. Für Caspary gehört auch dazu, viele der laufenden Gesetzesprozesse erst einmal um ein bis zwei Jahre aufzuschieben – sei es das europäische Lieferkettengesetz, das Kreislaufwirtschaftsgesetz oder auch die Ökodesign-Richtlinie. Die Idee, eine Art „Belastungsmoratorium“ für die europäische Wirtschaft aufzulegen, um ihr vor dem Hintergrund des Krieges nicht noch zusätzliche (bürokratische) Lasten aufzubürden, hatte auch im März schon der CSU-Finanzexperte Markus Ferber, der dafür von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen höchstpersönlich noch eine Abfuhr erhielt. Aber ähnliche Forderungen haben längst auch den Wirtschafts- und Währungsausschuss des Parlaments (Econ) erreicht, wo sich in den nächsten Monaten eigentlich alles auf eine Finalisierung der Basel-III-Regeln konzentrieren sollte. Econ-Mitglieder wie Engin Eroglu, der auch Chef der Freien Wähler in Hessen ist, würden aber am liebsten auch Basel III fürs Erste auf Eis legen. Befürchtet wird, dass die neuen Bankenvorgaben die Kreditvergabe für den Mittelstand noch einmal einschränken werden – und dies in einer Art vorauseilendem Gehorsam bereits jetzt. Die Taxonomie lässt schön grüßen.
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Am nächsten Mittwoch steht in Straßburg wieder die große „Rede zur Lage der EU“ der Kommissionspräsidentin auf der Agenda. Traditionell ist dies auch der Zeitpunkt im Jahr, an dem die Brüsseler Behörde Gesetzesvorlagen wieder zurückzieht, weil sie aktualisiert werden müssen oder sie schlicht überholt sind. Dass von der Leyen diese Gelegenheit nutzt, um dem Krieg Tribut zu zollen, ist aber eher unwahrscheinlich. Denn die Kommission konzentriert sich aktuell zusammen mit den Mitgliedstaaten ganz darauf, erst einmal die Energiekrise irgendwie in den Griff zu bekommen. Von der „destruktiven Wirkung“ der exorbitant hohen Strom- und Gaspreise sprach am Donnerstag in Brüssel noch ein ranghoher EU-Diplomat. Was er damit auch implizierte: Natürlich geht es darum, die Energiekrise irgendwie ökonomisch für die Unternehmen und insbesondere ärmere Haushalte abzufedern. Aber es wird auf der anderen Seite natürlich auch darum gehen, den Wutbürgern überall in Europa nicht noch weitere Nahrung zu bieten. Neue Gelbwesten oder eine neue Pegida-Bewegung braucht zurzeit wohl niemand auf den Straßen. Aber die 70000, die am vergangenen Wochenende in Prag gegen steigende Energiepreise, aber auch gegen die EU und die Nato im Allgemeinen protestiert haben, dürften schnell weitere Nachahmer finden.
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Andererseits hat eine in dieser Woche veröffentlichte neue Eurobarometer-Umfrage noch ein durchaus positives Bild in der Bevölkerung gespiegelt: Zwar sagen immerhin 62% der EU-weit befragten Menschen, der Krieg in der Ukraine habe für sie persönlich „schwerwiegende finanzielle Folgen“. Aber der Anteil der Befragten, die ein positives Bild von der EU haben, ist weiter gestiegen und liegt jetzt auf dem höchsten Stand seit 2009. Optimistisch bezüglich der Zukunft der EU äußerten sich 65% – das sind immerhin 3 Prozentpunkte mehr als kurz vor Ausbruch des Krieges. Zufrieden mit der Reaktion der EU auf Russlands Invasion waren insgesamt nur 57% der Befragten – aber vielleicht hätten sich viele auch eine noch konsequentere Antwort gewünscht: Denn die Abkoppelung von russischen Energiequellen befürworten immerhin 86%.