Die EU war zu großzügig mit Italien
Seit Monaten ist es heiß in Italien, sehr heiß – und das nicht nur mit Blick auf die Temperaturrekorde in diesem Sommer. In der Ukraine herrscht Krieg. Die Inflation steigt und steigt, die Corona-Pandemie erhebt ihr Haupt und es droht Energieknappheit. Doch in Italien haben Populisten von links und rechts die Regierung von Ministerpräsident Mario Draghi gestürzt. Mitten im Glutofen herrscht Wahlkampf.
Das heißt Weihnachten im Sommer: Der greise Forza-Italia-Chef Silvio Berlusconi fordert eine Grundrente von 1000 Euro für alle, auch für die, die nie in die Rentenkasse eingezahlt haben. Die rechtsnationale Lega von Matteo Salvini will ein schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm von 50 Mrd. Euro auflegen, plant eine großzügige Steueramnestie und verlangt die Rente nach 41 Beitragsjahren. Die 5-Sterne-Bewegung fordert ein Ruhestandsalter von 63.
Darf’s ein bisschen mehr sein? Die Kassen sind leer. Die Zinsen steigen und der Schuldendienst für das mit 150% des Bruttoinlandsprodukts verschuldete Land wächst. Der Zinsabstand zwischen deutschen und italienischen Zehn-Jahres-Anleihen ist auf über 230 Basispunkte hochgeschossen. Italien muss für neue Bonds fast 4% Zinsen zahlen. Die Unsicherheiten an den Finanzmärkten nehmen angesichts eines wahrscheinlichen Wahlsiegs der russlandfreundlichen Lega und der postfaschistischen Fratelli d’Italia, die mit der rechtsextremen Marine Le Pen in Frankreich, der AfD in Deutschland und Ungarns Viktor Orbán paktieren, zu. Das schert die Populisten nicht.
Italien hat das Potenzial, die ganze Eurozone zu zerreißen. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat Sondermaßnahmen erarbeitet, die den Patienten Italien im Zweifelsfall retten sollen. Dabei halten EZB und Banca d‘Italia bereits mehr als ein Drittel der Staatsschulden. Der Rest liegt größtenteils bei Italiens Banken.
Das Land galt gerade noch als vorbildlich mit einer Wachstumsrate von 6,6% (2021) und einer hohen Impfquote, mit der man die Pandemie in den Griff bekam. Der angesehene Ex-EZB-Chef Draghi sicherte dem Land 190 Mrd. Euro aus dem Europäischen Wiederaufbauprogramm. Er legte ein Reformprogramm vor, das er trotz Murren in der von einer breiten Mehrheit getragenen Regierung abarbeitete.
Doch Draghi musste Kompromisse machen. Projekte wurden verwässert, die Liberalisierung von Märkten aufgeweicht. Draghi traute sich nicht, das 2018 von den Populisten auf 62 gesenkte Renteneintrittsalter dauerhaft anzuheben, das teure und ineffiziente Grundeinkommen zu reformieren oder die von den Vorgängern eingeführten gigantischen Hilfen für die energetische Sanierung von Gebäuden, die Milliarden-Betrügereien zur Folge hatten, zu ändern. Vor allem in Süditalien fehlen Strukturen und Personal für die Umsetzung des Wiederaufbauprogramms. Kriminelle Organisationen halten die Hand auf. Draghi war ein Garant für die Glaubwürdigkeit des Landes, war aber ineffizienter als erwartet. Man muss Gesetze und Dekrete nicht nur verabschieden. Man muss sie auch umsetzen.
Der noch amtierende Ministerpräsident setzte darauf, die Schulden durch hohes Wachstum zu reduzieren. Auch er nutzte die Niedrigzinsphase nicht, um die Verschuldung abzubauen. Italien ist und bleibt der kranke Mann Europas. Schneller als erwartet droht das Land in einen europafeindlichen Populismus zurückzufallen. Die Populisten nehmen zwar gern das Geld aus Brüssel – aber nur dann, wenn damit keine Bedingungen verbunden sind.
Draghi ist nur noch kommissarisch im Amt. Er plant ein neues Hilfsprogramm, das aus laufenden Einnahmen finanziert werden soll, und versucht, beschlossene Reformen zu verabschieden, um dem Land Gelder aus dem Aufbauprogramm zu sichern. Der Haushalt, den er im Oktober präsentieren wollte, ist Aufgabe der neuen Regierung, wird ihr Lackmustest sein. Sollte sich die politische Rechte durchsetzen, drohten gewaltige Konflikte mit Europa. Dann sind weitere Gelder aus dem EU-Wiederaufbauprogramm in Gefahr. Die Finanzmärkte sind alarmiert. Hohe Zinsaufschläge sind programmiert.
Italien braucht die Unterstützung Europas. Wie ein Junkie an seinen Drogen hängt Rom an europäischen Hilfen und einer großzügigen Politik der EZB. Doch Europa muss endlich deutlich machen, dass die Unterstützung ihren Preis hat, und diesen auch einfordern. Hilfen ohne Gegenleistungen und gegebenenfalls Sanktionen kann es nicht mehr geben. Europa war viel zu großzügig mit Italien und trägt damit Mitschuld an der Misere.