Die letzten Runden von Angela Merkel auf dem Brüsseler Parkett
Angela Merkel wirkte zwar müde, als sie am Donnerstag um kurz vor 14 Uhr das Ratsgebäude in Brüssel betrat. Dennoch machte hier nichts den Eindruck, als ginge eine Ära zu Ende. Business as usual. Die Bundeskanzlerin – schwarze Hose, hellbeige Jacke, dunkle Mund-Nasen-Maske – stellte sich noch einmal den Journalisten. Dreieinhalb Minuten Statement, keine Fragen, Abgang. Der Europäische Rat, der eine Stunde später begann, war ihr 107. EU-Gipfel – informelle Beratungen und Videokonferenzen eingeschlossen. Rekordmann Jean-Claude Juncker, der als Luxemburger Regierungschef und später als EU-Kommissionspräsident auf 147 Gipfelteilnahmen kam, ist zwar noch weit entfernt. Nichtsdestotrotz ist dies eine beeindruckende Bilanz. Ob dies tatsächlich Merkels letzter Auftritt auf dem Brüsseler Gipfelparkett ist, liegt nicht in ihrer Hand. Der nächste offizielle Europäische Rat ist für den 16./17. Dezember angesetzt. Es liegt an den Koalitionsverhandlungen in Berlin, wer an dem Treffen teilnehmen wird. Diplomaten in der noch amtierenden Bundesregierung verweisen darauf, dass es keine Brüche geben wird: Merkel und ihr Vizekanzler und wahrscheinlicher Nachfolger Olaf Scholz hätten auch vor dem jetzigen EU-Gipfel „im regelmäßigen Gespräch und engem Austausch“ gestanden.
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Irgendwann zwischen den vielen (Krisen-)Gesprächen der EU-Staats- und Regierungschefs, von denen Merkel aktuell die Dienstälteste ist, soll es am Donnerstag oder Freitag vielleicht auch noch eine kleine Abschiedsfeier geben. Auch ein Abschiedsfoto stand am Donnerstag vor dem Abendessen noch auf der Agenda. Neben der CDU-Politikerin werden auch der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven und der umstrittene Tscheche Andre Babis verabschiedet. Vermissen werden viele im Europäischen Rat aber wohl vor allem Merkel. Kritiker werfen ihr zwar ihre Emotions- und Visionslosigkeit vor. Doch die Kanzlerin ist gleichzeitig auch eine Frau, die selbst den größten Streit sachlich und pragmatisch angehen und damit Brücken bauen kann. Manch einer glaubt hier ja sogar einen moralischen Kompass zu erkennen.
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Beim Streit mit Polen über Rechtsstaatlichkeit und dem jüngsten Verfassungsgerichtsurteil verwies die Kanzlerin in ihrem Eingangsstatement am Donnerstag richtigerweise darauf, dass es eigentlich um eine tiefer liegende Debatte geht, die weit über Polen hinausgeht: um das grundlegende Verständnis der EU und ihr Verhältnis zu den Mitgliedsländern. Geht es noch um eine „ever closer union“, die lange als Leitbild galt? Oder hat die stärkere Rückwendung in Richtung Nationalstaat den Integrationsgedanken nicht längst abgelöst? Auch bei der emotionalen Debatte um die hohen Energiepreise rät Merkel dazu, „besonnen zu reagieren“ und nicht gleich die aufgebauten Marktstrukturen wieder einzureißen, nur weil diese jetzt unangenehme Preissignale senden.
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Man könnte Merkels wohl formulierte Sätze alle auch als kleine Nadelstiche gegen Kollegen wie Mark Rutte oder Emmanuel Macron oder Mateusz Morawiecki verstehen, die zum Teil aus innenpolitischen Erwägungen heraus den großen Auftritt oder auch die heftige Konfrontation in Brüssel suchen. Dies war nie Merkels Ding. Stark war sie auch auf EU-Ebene immer, wenn es um das Krisenmanagement geht. Und hier gibt es auch auf ihrem womöglich letzten Gipfel genug zu tun: Ob die Aussprache um das Thema Rechtsstaatlichkeit, das Abfedern der Energiepreisexplosion, die langsam wieder bedrohlicher werdende Corona-Pandemie mit ersten neuen Lockdowns auch in der EU, die strategische Grundsatzdebatte über die künftige Handelspolitik oder auch die noch immer nicht gelöste Migrationsfrage, die der EU angesichts der Belarus-Attacken gerade wieder auf die Füße fällt – die Agenda von Merkels 107. EU-Gipfel ist voll von Problemen, an denen sich die Regierungschefs reiben und die in einem gefährlich unversöhnlichen Streit enden könnten. Ein schöner Abgang für Merkel wäre das nicht.
(Börsen-Zeitung,