Im BlickfeldShortseller werfen hin

Die Reihen der Leerverkäufer lichten sich

Angesichts der hohen Intensität ihres Jobs werfen mehrere prominente Leerverkäufer hin. Das ist problematisch für den Aktienmarkt, der die Shortseller als Kontrollinstanzen benötigt.

Die Reihen der Leerverkäufer lichten sich

Die Reihen der Leerverkäufer lichten sich

Angesichts der hohen Intensität ihres Jobs werfen mehrere prominente Leerverkäufer hin. Das ist problematisch für den Aktienmarkt, der die Shortseller als Kontrollinstanzen benötigt.

Von Alex Wehnert, New York

Nate Anderson hat die Nase voll. Der Gründer der Shortseller-Firma Hindenburg Research hat im Januar angekündigt, seine Aktivitäten einstellen zu wollen – durch seinen Rückzug lichten sich die ohnehin ausgedünnten Reihen der Leerverkäufer an den globalen Börsen bedeutend. Denn Anderson gilt als einer der prominentesten Köpfe dieser Ecke des Kapitalmarkts, die von Unternehmern häufig als „Versammlung von Aasfressern“ verunglimpft wird und im weltweiten finanziellen Ökosystem doch eine entscheidende Rolle einnimmt.

Denn Shortseller wirken als Kontrollinstanz: Sie steuern Rallys entgegen, die sich zu stark aufgeheizt haben, und können dazu beitragen, Kapitalströme von schlecht geführten oder maroden Unternehmen wegzuleiten. Denn sie leihen sich Aktien oder Anleihen und veräußern sie in der Hoffnung, sie vor dem Rückgabezeitpunkt billiger zurückkaufen zu können – setzen also auf fallende Kurse. Adressen wie Hindenburg oder die in Deutschland durch den Wirecard-Skandal bekannte, vom britischen Aktivisten Fraser Perring gegründete Viceroy Research gehen dabei öffentlich vor. Ihre Mitteilungen darüber, dass sie ein neues Ziel ins Auge gefasst haben, bescheren Unternehmen häufig heftige Kursstürze.

Gewaltige Schlagkraft

Welche Schlagkraft gerade Hindenburg und Anderson dabei entfalten, haben der indische Milliardär Gautam Adani und die Corporate-Raider-Legende Carl Icahn am eigenen Leib erfahren. Dem Unternehmer aus Südasien warf der Shortseller nach aufwendigen Recherchen, in deren Rahmen seine Firma Unternehmensregister auf Mauritius durchkämmte, im Jahr 2023 vor, durch jahrzehntelange betrügerische Buchhaltungspraktiken die Aktienkurse seiner Gesellschaften aufgebläht zu haben. In den Tagen nach Veröffentlichung des Hindenburg-Reports verlor die Adani-Gruppe 108 Mrd. Dollar an Börsenwert. Die Affäre führte zu politischen Turbulenzen in Indien, warf die Opposition der Regierungspartei BJP doch vor, keine Maßnahmen gegen Adani ergriffen zu haben, der als Verbündeter von Premierminister Narendra Modi gilt.

Milliardär Gautam Adani gilt als Verbündeter des indischen Premiers Narendra Modi, eine Shortseller-Attacke brachte ihn schwer ins Schwimmen. Foto: picture alliance / NurPhoto | Firdous NazirBesondere Hinweise

Icahn geriet 2023 ins Visier von Hindenburg. Der Leerverkäufer argumentierte in einem im Mai des gleichen Jahres veröffentlichten Report, dass die Holding Icahn Enterprises überbewertet sei und Assets zu aufgeblähten Preisen auf der Bilanz führe. Zudem habe die Hedgefonds-Legende Anteile an der eigenen Firma im großen Stil als Besicherung für Margin Loans genutzt, um neue Investments zu finanzieren. Icahn Enterprises verlor auf die Attacke hin rund die Hälfte ihres Börsenwerts, das Privatvermögen des Gründers schrumpfte laut dem Bloomberg Billionaires Index zeitweise von einst rund 25 Mrd. Dollar auf 6,26 Mrd. Dollar.

Infolge des Hindenburg-Angriffs musste Icahn die Dividende um die Hälfte zusammenstreichen – die erste Kürzung seit 2011. Zudem signalisierte er, verlustreiche Wetten gegen den US-Aktienmarkt zurückfahren und sich wieder stärker auf den Shareholder-Aktivismus konzentrieren zu wollen. In den 1980er Jahren hatte er durch den Leveraged Buy-out von Trans World Airlines (TWA) seinen Ruf als Vorreiter unter den Corporate Raiders begründet. Die Hindenburg-Attacke reduzierte indes nicht nur Icahns finanziellen Spielraum, sondern beschädigte auch seine Reputation als einer der gefürchtetsten aktivistischen Investoren.

Heftige Kursverluste

Auch heute liegt die Aktie von Icahn Enterprises noch über 80% unter dem Niveau, die sie vor dem Angriff durch Andersons Firma erreicht hatte. Bei Adani Enterprises beläuft sich der Kursverlust trotz zwischenzeitlicher Erholung noch auf über 30%. Und es gibt noch extremere Beispiele: Nikola, als Hersteller von Wasserstofftrucks an der Wall Street einst als große Zukunftswette gefeiert, ist nach einem Betrugsskandal in die Bedeutungslosigkeit abgestürzt. Das Unternehmen, das 2020 zwischenzeitlich auf eine Marktkapitalisierung von über 30 Mrd. Dollar kam und damit kurzzeitig den Automobilriesen Ford übertraf, ist heute noch 66 Mill. Dollar wert und benötigt dringend Kapital, um eine Insolvenz abzuwenden.

Zum Haare raufen: Leerverkaufsattacken haben Hedgefonds-Legende Carl Icahn heftige Verluste eingebrockt. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Javier Rojas/Pi.

Vor nahezu fünf Jahren ging Nikola durch Rückwärtsfusion mit einer Special Purpose Acquisition Company (Spac) an die Börse und ging eine Partnerschaft mit General Motors ein. Kurz darauf legte Hindenburg einen Bericht vor, gemäß dem der Truckhersteller Investoren einen „Ozean von Lügen“ vorgesetzt hatte. Unter anderem sei ein Werbevideo, in dem ein Lastwagen von Nikola in hoher Geschwindigkeit eine Straße entlang fährt, manipuliert. In Wahrheit sei das Gerät nicht manövrierfähig gewesen, das Unternehmen habe lediglich gefilmt, wie es einen Hügel hinuntergerollt sei.

Wegen Betrugs verurteilt

Ein US-Gericht verurteilte Firmengründer Trevor Milton wegen Betrugs schließlich zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Dieser log Anleger gemäß Zeugenaussagen über so gut wie jeden Aspekt seines Unternehmens an, von der Funktionsfähigkeit seiner Sattelschlepper über die Stabilität seiner Batterieversorgung bis zum Füllstand seiner Auftragsbücher. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass Investoren dadurch ein Schaden von mehr als 660 Mill. Dollar entstand.

Wegen Betrugs zu vier Jahren Gefängnis verurteilt: Nikola-Gründer Trevor Milton. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Brittainy Newman

Mit der Wette gegen Nikola verdiente sich die 2017 gegründete Hindenburg, deren Arbeit Regulatoren und Strafverfolgungsbehörden genau beobachten, eine goldene Nase. Im Gegensatz zu anderen Leerverkäufern verwaltete Anderson indes nie das Geld anderer Investoren, sondern investierte lediglich sein eigenes Kapital. Zudem ging er Deals mit Fonds ein und handelte im Gegenzug für Informationen lukrative Gewinnbeteiligungen heraus und stellte seine Erkenntnisse Regierungsbehörden zur Verfügung, um für die Hinweise Belohnungen einzunehmen. Mitunter brachte ihm sein Vorgehen heftigen Ärger ein: Drei frühe Ziele seiner Short-Attacken verklagten Anderson, doch Hindenburg überlebte die Rechtsstreitigkeiten.

Intensiver Job

Nun also ist dennoch Schluss. Er habe „den Großteil der vergangenen acht Jahre entweder in einem Konflikt oder in der Vorbereitung auf den nächsten verbracht", sagte Anderson dem „Wall Street Journal“. Nun wolle er mehr Zeit mit seiner Familie verbringen, sich Hobbys widmen und reisen. Finanziell habe er ausgesorgt, sein Geld will er künftig in Indexfonds und andere stressfreiere Investments stecken.

Der Videospielhändler Gamestop hat bei der „Meme Stock“-Rally ab 2021 eine tragende Rolle gespielt. Foto: picture alliance / NurPhoto | Ying Tang.

Wie intensiv der Job als Leerverkäufer sein kann, haben auch andere Vertreter des Segments in den vergangenen Jahren erfahren. Insbesondere die „Meme Stock“-Rally ab Januar 2021 stellte viele Shortseller vor gewaltige Herausforderungen. In deren Rahmen verabredeten sich Privatanleger in Online-Foren zu Käufen von Aktien wie jener des Videospielhändlers Gamestop. Vorgegebenes Ziel war es dabei, Hedgefonds mit großen Leerverkaufspositionen zu schaden. Die von Gabriel Plotkin gegründete Melvin Capital verlor dadurch allein im Januar 2021 rund 6,8 Mrd. Dollar und damit mehr als die Hälfe des verwalteten Vermögens.

Legende macht Fonds dicht

Neben der „Demokratisierung“ der Geldanlage und einem lang anhaltenden Bullenmarkt macht der Aufstieg von Multi-Strategy-Hedgefonds spezialisierten Shortsellern das Leben schwer. Jim Chanos, mit Leerverkäufen der Aktie des Skandalkonzerns Enron zur Börsenlegende geworden, machte seinen einst 6 Mrd. Dollar schweren Fonds 2023 dicht, prominente Manager wie Bill Ackman oder Dan Loeb schrecken zunehmend vor öffentlichen Short-Positionen zurück.

Die Geschichte von Hindenburg Research soll unterdessen noch nicht ganz vorbei sein. So will Anderson seine Ressourcen und Vorgehensweisen über Open-Source-Veröffentlichungen mit aufstrebenden Shortsellern teilen, die seine Taktiken somit bei eigenen Attacken nutzen sollen. Der Markt braucht schließlich Kontrollinstanzen.