Im Blickfeld:Notenbankchefin Elvira Nabiullina

Die Retterin der russischen Wirtschaft wird nun zum Sündenbock

Nach zwei Jahren starken Wachstums bremst die russische Wirtschaft ab. Viele geben Notenbankchefin Elvira Nabiullina die Schuld, die mit rasanten Leitzinserhöhungen auf die steigende Inflation reagiert. In der russischen Wirtschaftswelt finden plötzlich Gefechte statt, die auf politischer Ebene undenkbar wären.

Die Retterin der russischen Wirtschaft wird nun zum Sündenbock

Die Retterin der russischen Wirtschaft wird nun zum Sündenbock

Nach zwei Jahren starken Wachstums bremst die russische Wirtschaft ab. Viele geben Notenbankchefin Elvira Nabiullina die Schuld, die mit rasanten Leitzinserhöhungen auf die steigende Inflation reagiert. In der russischen Wirtschaftswelt finden plötzlich Gefechte statt, die auf politischer Ebene undenkbar wären.

Von Eduard Steiner, Moskau

Von einer Ausweitung des Personenschutzes für Elvira Nabiullina ist aktuell nichts bekannt. Zu dieser Maßnahme hatte der Staat kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges im Jahr 2022 gegriffen, weil die russische Zentralbankchefin damals mit einer ruckartigen Leitzinserhöhung auf 20% und Kapitalverkehrsbeschränkungen vielen Leuten das Leben schwer gemacht hatte. Später wurde der Personenschutz wieder auf einen Leibwächter reduziert.

Dabei ist Nabiullina gerade in letzter Zeit zu einem Feindbild geworden wie kaum jemals zuvor. Seit sie Ende Oktober den Leitzins von 19 auf 21% erhöht hat, nachdem sie ihn erst kurz zuvor von 18 auf 19% angehoben hatte, kann sie sich der verbalen Angriffe und Schuldzuweisungen kaum noch erwehren. 

Unmut der Unternehmen

Der russische Industrie- und Unternehmerverband RSPP plädiert inzwischen sogar dafür, dass die Regierung ein Mitspracherecht in der Geldpolitik der Zentralbank erhält, wie die Wirtschaftszeitung aus einer Stellungnahme des RSPP zitiert.

Der Unmut der Unternehmer rührt nicht nur daher, dass der Leitzins aktuell so hoch ist wie seit Anfang 2003 nicht mehr. Er rührt auch daher, dass die Zentralbank, die in ihrer Geldpolitik auf Inflationsbekämpfung mit klarem Inflationsziel (Inflation Targeting) fokussiert ist, Ende Oktober gleich auch noch eine weitere Zinsanhebung nicht ausschloss. Die Inflationserwartung der Menschen sei nämlich „signifikant gestiegen“, erklärte sie.

Kritik am Inflationsziel

Wie hoch die bestehende Inflation wirklich ist, bleibt umstritten. Dass sie weit vom Zentralbank-Ziel von 4% entfernt ist, steht außer Frage. Ausgehend von den gestiegenen Budgeteinnahmen jenseits des Öl- und Gassektors schätzt etwa Ex-Zentralbankvize Oleg Wjugin die wahre Inflation auf 18 bis 20%. Zuletzt kletterten vor allem die Lebensmittelpreise. Die Zentralbank selbst erwartet für 2024 8 bis 8,5% Teuerung.

„Mit 21% Leitzins schießt die Zentralbank über das Ziel hinaus“, sagt Vasily Astrov, Russland-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), auf Anfrage der Börsen-Zeitung: „Da wird die Kreditaufnahme für Investitionen praktisch unmöglich, denn die Zinsen liegen weit über der Rentabilität in den meisten Branchen.“ Allein das Inflationsziel von 4% sei unzeitgemäß, da es für normale Zeiten konzipiert worden sei, so Astrov: „Aber die Zeiten sind nicht normal. Die Inflation kommt vielfach von der Angebotsseite, weil der Import durch die Sanktionen verteuert wird. Das zu bekämpfen ist nicht Aufgabe der Zentralbank.“

Die russischen Unternehmer lassen ihrem Unmut noch weitaus freieren Lauf. „Das Nachdenken über langfristige Pläne führt in erster Linie zur Depression“, sagte etwa Dmitri Alexejew, Gründer der landesweiten Handelskette DNS und Milliardär, im Oktober in einem Interview gegenüber dem russischen „Forbes“-Magazin. „Man kann nur schwer ein Business erfinden, das mit einem Sparbuch auf der Sberbank (Russlands größter Bank, Anm.) konkurrieren könnte.“

Viele Zahlungsausfälle

Wie heikel die Situation schon ist, brachte eine Umfrage des RSPP kürzlich zutage. Ihr zufolge sind Zahlungsausfälle bei Geschäftspartnern zum größten Problem für Unternehmen geworden. Hatten im ersten und zweiten Quartal 22 bzw. 23% der Unternehmer beklagt, dass Zahlungsausfälle das Geschäft belasten, so waren es im dritten Quartal 36,6%. Einer der Gründe für die Zahlungsausfälle ist laut RSPP „die verschlechterte Finanzlage der Unternehmen, weil diese immer schwerer zu Krediten kommen“. Auch die Löschung bestehender Kredite – etwa die Hälfte davon variabel abgeschlossen – ist immer schwerer zu stemmen.

„Wenn wir so weitermachen, gehen die meisten russischen Unternehmen bankrott“, sagte dann sogar Sergej Tschemesow, ehemaliger Kollege Wladimir Putins beim Sowjetgeheimdienst KGB und heute Chef der mächtigen Staatsholding Rostec, die den Großteil der russischen Rüstungsunternehmen unter ihrem Dach vereinigt.

Unternehmen nehmen Nabiullina ins Visier

Weil die Unternehmer für das Grundübel der wirtschaftlichen Verwerfungen, nämlich den Ukraine-Krieg, den Kreml als Urheber nicht direkt kritisieren können, nehmen sie nun die Zentralbank und ihre wirtschaftsliberale Chefin Nabiullina ins Visier. Dabei galt bisher auch sie eigentlich als weitgehend unantastbar, weil sie mit ihrem smarten Krisenmanagement vor allem im ersten Kriegsjahr die Wirtschaft und den Finanzmarkt vor dem Zusammenbruch bewahrt hat.

Nach dem folgenschweren Ölpreisverfall 2014 und der damaligen Krim-Annexion sowie der Covid-Krise 2020 ist die jetzige Kriegssituation bereits die dritte Krise, die Nabiullina – zumindest bislang – gut gemeistert hat.

Inflation zieht an

Aber auch die unzähligen Privatunternehmer selbst haben im Kreml an Achtung gewonnen, weil sie mit ihrer Krisenerfahrung und Flexibilität die Wirtschaft nach Kriegsbeginn am Laufen hielten, obwohl viele von ihnen eigentlich gegen den Krieg sind.

Plötzlich treten Sollbruchstellen im Wirtschaftsgefüge zutage. Plötzlich kracht es im Gebälk. Plötzlich kommt die Quittung für die exorbitanten Budgetausgaben für den Krieg, die die Löhne nach oben treiben und zusammen mit Engpässen beim Angebot auch die Preise.

Drohende Rezession

Der Wirtschaft setzt die Situation jedenfalls immer mehr zu. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat die Prognose für Russlands Wirtschaftswachstum 2025 kürzlich von 1,5 auf 1,3% reduziert. „Ein höheres Wachstum ist nur möglich, wenn die Zentralbank ihre konservative Politik ändert“, so Astrov.

Von drohender Rezession oder Stagflation ist aktuell in Russland die Rede. Um eine Rezession zu vermeiden, müsste der Leitzins bis Mitte 2025 von aktuell 21 auf 15–16% sinken, schrieb daher neulich das Moskauer Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognose (ZMAKP) in einer Analyse.

Wendepunkt erreicht?

Die 61-jährige Nabiullina und ihr Team ficht all die Kritik vorerst freilich wenig an. Die Zentralbank sei zum Schluss gekommen, dass diejenigen Unternehmen, die keine Schulden haben und daher effizienter seien, mehr Marktanteile bekommen sollten, ließ sie vor einiger Zeit wissen. Die anderen sollten an ihrer Effizienz arbeiten, neue Businessmodelle suchen, ihre Aktivitäten zurückschrauben oder von anderen geschluckt werden.

Und auch bei ihrem Auftritt in der Staatsduma zu Beginn dieser Woche blieb sie selbstbewusst. Nur so viel deutete sie an: „Wenn es keine zusätzlichen äußeren Schocks gibt, beginnt die Leitzinssenkung im nächsten Jahr.“ Man stehe an einem Wendepunkt, das Wachstum bei den Unternehmenskrediten dürfte sich in den kommenden Monaten verlangsamen. Das werde – so Nabiullina – dann auch die Inflation drücken.

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