Die Touristen überschwemmen Italien
Heftige Gewitter und Regenfälle haben in der vergangenen Woche die beispiellose Hitzewelle und Dürre zumindest in Norditalien wenigstens für einige Tage unterbrochen. Die Lage der Landwirtschaft hat sich dadurch nicht grundlegend verbessert. Ein Großteil der Kulturen wie Mais, Getreide und Reis war schon vorher vertrocknet. Und die steinharten Böden konnten das viele Wasser gar nicht aufnehmen. Hagelschauer verursachten weitere Schäden.
Die politischen Gemüter konnte die mit den Regenfällen verbundene kurzzeitige Abkühlung keineswegs beruhigen. Im Gegenteil: Ausgerechnet im heißen Urlaubsmonat August, in dem das normale Leben sonst stillsteht und die Städte ausgestorben unter der sengenden Hitze liegen, hat die heiße Wahlkampfphase begonnen. Die politischen Parteien haben Kandidatenlisten erarbeitet, Bündnisse geschlossen oder sie wieder aufgelöst, Programme vorgelegt und Wahlveranstaltungen abgehalten. Das hat es im Belpaese trotz zahlreicher Regierungswechsel zu dieser Jahreszeit noch nie gegeben.
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Die Touristen, die nach der Pandemie nun das Land in beispiellos großer Zahl überschwemmen, dürften davon wenig mitbekommen. Sie suchen Abkühlung vor allem an den überfüllten Stränden Liguriens, der Toskana und der oberen Adria.
Zum Saisonhöhepunkt am Feiertag Ferragosto (15. August) sollen neben ausländischen Besuchern allein 15 Millionen Italiener unterwegs gewesen sein. 90% von ihnen verbringen den Urlaub im eigenen Land, mehr als 60% von ihnen entscheiden sich für das Meer, jeweils ein Fünftel fährt in die Berge oder in eine Kulturstadt. Die Staatseisenbahn Trenitalia und ihr privater Konkurrent Italo rechnen damit, zwischen Juli und Mitte September zusammen fast 60 Millionen Fahrkarten zu verkaufen – etwa doppelt so viele wie in der Vorjahresperiode. Neben den Großstädten besonders gefragt waren Riccione an der Adria, Bozen sowie diverse Küstenorte. Auch die ausländischen Gäste sind zurück. Waren es im vergangenen Jahr vor allem Deutsche, Franzosen, Schweizer und Österreicher, die kamen, sind nun auch die Amerikaner wieder da. Sie profitieren vom günstigen Wechselkurs und füllen Luxushotels. Das kompensiert das Fernbleiben zahlungskräftiger Chinesen und Russen.
Der Fremdenverkehr trägt rund 10% zum Bruttoinlandsprodukt bei und gehört mit der Lebensmittelbranche, die 2021 auf einen Umsatz von 204 Mrd. Euro kam und nach Schätzungen des Landwirtschaftsverbands Coldiretti in diesem Jahr Waren im Wert von 60 (Vorjahr: 52) Mrd. Euro exportieren wird, zu den großen Konjunkturstützen Italiens.
An vielen Orten, etwa auf Sizilien, Sardinien und Capri, aber auch in Ligurien, in der Toskana und in Rom, war zumindest bis zum vergangenen Wochenende kaum noch ein freies Bett zu bekommen. Das Vor-Pandemie-Niveau wurde nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen. In Venedig müssen Touristen angesichts des Massenansturms voraussichtlich ab 16. Januar sogar „Eintritt“ zahlen – sofern sie nicht eine Unterkunft in der Lagunenstadt gebucht haben.
Die Freude der Tourismusbranche ist aber nicht ungetrübt, denn vielfach fehlen Bademeister, Zimmermädchen, Kellner oder Köche und Restaurants haben häufig ihre Öffnungszeiten verkürzt oder ihre Serviceleistungen eingeschränkt. Das Personal ist oft in besser bezahlte Jobs abgewandert oder kassiert lieber das Grundeinkommen, das nur an wenige Bedingungen geknüpft ist. Es ist häufig attraktiver, das Grundeinkommen mit ein bisschen Schwarzarbeit zu kombinieren, als für wenig Geld im Servicebereich zu arbeiten.
Aber auch Hitze und Trockenheit wirken sich auf den Tourismus aus. Brände in Ligurien, bei Rimini, in Bibione an der Adria, in Sizilien und auf der Insel Pantelleria haben Touristen zeitweise in die Flucht geschlagen. In einigen Adria-Orten war das Baden zeitweise wegen Kolibakterien verboten. Und an den oberitalienischen Seen Lago Maggiore sowie dem bei den Deutschen so beliebten Gardasee können die Ausflugsschiffe einige Häfen nicht mehr anfahren. Vor der Halbinsel Sirmione ganz im Süden ragen nun die sonst unter dem Wasserspiegel liegenden Felsen aus dem Wasser.)