Buenos Aires

Ein Geisterschiff auf Katastrophenkurs

Argentinien müsste boomen. Das Land hat die viertgrößten Schieferöl- und die zweitgrößten Schiefergasreserven der Welt. Es ist Großproduzent von Soja, Weizen, Mais und Lithium. Doch Argentiniens Wirtschaft taumelt.

Ein Geisterschiff auf Katastrophenkurs

Nein, er hat nicht geheult. Das De­menti aus dem Regierungspalast war energisch. Argentiniens Präsident Alberto Fernández habe am Dienstag der Vorwoche bei einer Ansprache in der Landgemeinde Pila keinesfalls, wie von mehreren Zeitungen berichtet, feuchte Augen bekommen, als er sich dort im kleinen Kreis über sein Tagwerk an der Staatsspitze ausließ. Natürlich dauerte es nicht lang, bis mehrere Me­dien, gestützt auf Zeugenberichte, wiederum dieses Dementi dementierten. Und nur wenige diskutierten noch darüber, was der Staatschef denn an einem der kritischsten Tage seiner zweieinhalbjährigen Regierungszeit überhaupt in einem 6000-Einwohner-Dorf angestellt hat.

Nun, er hat eine neu asphaltierte Umgehungsstraße eingeweiht so­wie den Neubau des örtlichen Ge­sundheitspostens. Und das an ei­nem Tage, an dem die Landeswährung im freien Handel um 7% ihres Wertes zum US-Dollar verlor.

Die Argentinier dürfen sich fühlen wie Passagiere im Rumpf eines lecken Geisterschiffs. Während unter Deck immer mehr Wasser eindringt, bleibt es auf der Brücke still. Niemand mag Kommandos geben und keiner will das Ruder übernehmen. Fernández flieht aufs Land, da er systematisch entmachtet wurde. Und seine formelle Vize Cristina Kirchner schweigt, weil sie hofft, dass niemand mitbekommt, dass sie auf Katastrophenkurs steuert.

Argentinien müsste boomen. Das Land hat die viertgrößten Schieferöl- und die zweitgrößten Schiefergasreserven der Welt. Es ist Großproduzent von Soja, Weizen und Mais. Sein Norden gehört zum „Goldenen Dreieck des Lithiums“ und im menschenleeren Patagonien we­hen die stärksten und konstantesten Winde der Welt. Das Land könnte ein Magnet für Milliardeninvestitionen in erneuerbare Energien sein.

Doch Argentinien triumphiert nicht – es taumelt. Die Inflation legt immer weiter zu und dürfte am Jahresende zwischen 90 und 100% betragen. Weil das Land seine Treibstoffvorräte mangels Infrastruktur nicht nutzen kann und stattdessen teure Gas- und Dieselimporte bezahlen muss, verlor die Zentralbank alle flüssigen Reserven. Die Regierung hat Mühe, sich zu finanzieren. Nachdem die internationalen Kreditmärkte verschlossen sind, hat sich die Regierung massiv in Peso verschuldet. Aber auch das wird immer schwieriger. In der zweiten Jahreshälfte werden 3,6 Bill. Peso fällig, nach offiziellem Kurs sind das 27,5 Mrd. Dollar. Niemand weiß, ob diese refinanziert werden können.

Das liegt vor allem daran, dass niemand weiß, wohin das Land steuert, seitdem am 4. Juli Finanzminister Martín Guzmán zurückgetreten ist. Seine Nachfolgerin Silvia Batakis hat versprochen, den Sparkurs einzuhalten, den Guzmán mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vereinbart hat. Doch um die Peso-Anleihen umzuschulden, hat das Land mehr Geld ge­druckt als ausgemacht. Zu Wochenanfang war Batakis in Washington und musste sich deutliche Worte anhören. Gegenüber Wall-Street-Investoren beeilte sie sich zu versichern, die volle Unterstützung der Vizepräsidentin zu haben.

Kirchner und Konsolidierung? Nicht nur die Investoren zweifeln. Denn die Vize und ihr Anhang haben seit der Unterschrift unter das IWF-Abkommen im Januar Finanzminister und Präsidenten systematisch demontiert – mit öffentlichen Beschimpfungen und internen Manövern. Fernández habe schon mehrfach mit Rücktritt gedroht, heißt es. Sollte das geschehen, dann müsste Kirchner turnusgemäß bis zu den nächsten Wahlen im Oktober 2023 regieren. In diesem Fall könnte sie ihr Versteckspiel kaum fortsetzen. Sie müsste entweder einen Sparkurs öffentlich verteidigen. Oder das Land in einen offenen Konflikt mit dem IWF steuern – und damit gegen alle mächtigen Staaten der Welt.

Voriges Wochenende trafen sich die Vize und ihr Präsident zu einem langen Mittagsmahl. Seither kursieren Gerüchte über eine Regierungsumbildung. Womöglich könnte Parlamentspräsident Sergio Massa zum Kabinettschef berufen werden und ein ganzes Wirtschafts- und Fi­nanzteam mitbringen. Angeblich ist Kirchner einverstanden, wohl in der Hoffnung, dass die Krise den ehrg­eizigen Massa zurechtstutzt. Fer­nández soll zögern. Aber seitdem er von Kirchners Gnaden Argentinien regiert, ist ihm das Dagegensein noch selten gelungen. Er hat allen Grund für ein paar Tränen.

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