London

Erbarmen – zu spät, die Londoner kommen!

Londoner haben im ersten Halbjahr doppelt so viel für Eigenheime jenseits der Hauptstadtgrenzen ausgegeben als vor der Pandemie. Sie hoffen, auch künftig von zuhause arbeiten zu dürfen.

Erbarmen – zu spät, die Londoner kommen!

Neulich hat eine junge Frau in einem Sommerkleid mit Blümchenmuster und zwei Kindern an der Tür geklingelt und etwas in weiten Teilen der britischen Metropole geradezu Unvorstellbares getan. „Hallo, ich bin die neue Nachbarin und das sind meine Kinder“, sagte sie. „Wir haben Bananenmuffins gebacken. Möchten Sie einen?“ Das hat es in all den Jahren nicht gegeben. My home is my castle. Die Bewohner der dicht besiedelten Insel sind auf Abstand bedacht. Wer neu zuzieht, stellt sich in Londons besseren Vierteln nicht auf diese Weise vor, es sei denn, er kommt aus dem Ausland und weiß nicht, wie man sich benimmt. Beim Nachbarn wird nur an die Tür geklopft, wenn dessen Haus in Flammen steht. Wenn man ihm etwas zu sagen hat, ist der Morgen, an dem der Müll rausgestellt wird, das einzig akzeptable Zeitfenster. Die Scheu der Insulaner vor zwischenmenschlichen Kontakten führt beim Immobilienkauf mitunter zu bösen Überraschungen. Schließlich kauft man den Nachbarn gewissermaßen mit, wenn man nur durch eine einfache Ziegelmauer voneinander getrennt lebt. Verständlich ist sie allerdings, wenn man das tägliche Gedränge in der U-Bahn, den engen Gassen der Städte und für das „agile“ Arbeiten optimierten Büros kennt. Danach will man einfach nur noch seine Ruhe haben.

Bananenmuffins sind ein guter Einstieg. Möglich wurde die positive Überraschung an der Haustür nur durch die beschleunigte Landflucht von Hauptstadtbewohnern, die offenbar fest daran glauben, auch weiterhin von zuhause aus arbeiten zu dürfen. Wer vom Homeoffice aus verfolgt, wie hoch bezahlte Compliance-Anwälte ihren Rasen auf Wembley-Niveau trimmen und Top-Banker neue Landschaftsbauprojekte in Angriff nehmen, wenn sie nicht gerade ihre Kinder kennenlernen, weiß schon, warum das nicht der Fall sein wird. Doch freut man sich über jedes Riesen-SUV weniger, das mit einem um den Parkraum in der Straße konkurriert. Das schafft Platz für Familien mit weniger umfangreichem Fuhrpark und großstadtgerechten Fahrzeugen. Dem Immobilienmakler Hamptons zufolge haben Londoner im ersten Halbjahr 61380 Eigenheime außerhalb der Metropole erworben. Das war der höchste Wert seit Beginn der Erhebung 2006. Sie gaben dafür 24 Mrd. Pfund aus. Der Vergleichswert aus dem Jahr vor der Pandemie hatte bei 12 Mrd. Pfund gelegen. Ob Kent oder Suffolk: Den alteingesessenen Bewohnern der Ferienziele rund um die Metropole steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben, wenn ein weiterer Audi Q8 zur Hausbesichtigung in ihrer Straße anrollt. Gefragt sind vor allem größere Anwesen, versteht sich. Setzt sich der Trend fort, haben Londoner Ende des Jahres 50 % mehr Eigenheime außerhalb der Hauptstadtgrenzen erworben als in den drei Jahren vor der Pandemie im Schnitt.

Das kann das soziale Gefüge in Orten wie Great Yarmouth, Margate oder Whitstable ordentlich durcheinanderwirbeln. Sollten die Lehrer dort geglaubt haben, sich ohnehin schon genug mit Eltern herumärgern zu müssen, werden sich für sie neue Abgründe auftun. Denn die Zugezogenen wissen, was ihren Sprösslingen Wolfgang Amadeus und Iphigenie zusteht, und werden darauf bestehen, dass ihren ganz individuellen Lernbedürfnissen ausreichend Rechnung getragen wird. In einem Prozess der kreativen Zerstörung könnten schon bald der örtliche Metzger und der Pub schließen, um Mandelmilch-Macchiato-Anbietern und Läden, in denen man natürliche Lebensmittel als eine Art Lebensversicherung verkauft, Platz zu machen. Die Handwerker vor Ort dürften den gehobenen Ansprüchen der Neukunden kaum gewachsen sein. Bislang wollte noch keiner, dass es in seinem viktorianischen Reihenhaus so aussieht wie in einem Apple-Shop. Und von Hygge hatten sie vorher nie gehört. Maroden Küstenorten nimmt das soziale Upcycling viel von ihrem Charme. Wer gerne darauf verzichtet, seine ehemaligen Nachbarn wiederzusehen, wird auf Orte wie Portsmouth oder Plymouth ausweichen müssen. Dort gibt es zwar auch schon Gelato am Pier, doch blicken konsumbewusste Metropolenbewohner bislang noch mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu auf die Navy Towns herab. Nachbarn scheinen dort aber prima miteinander klarzukommen.