Corporate Governance

ESG krempelt den Kapitalismus um

Ein ESG-Ausschuss im Aufsichtsrat, paritätisch besetzt, wird demnächst wohl nicht nur bei Bayer die Corporate Governance neu justieren.

ESG krempelt den Kapitalismus um

Den Wandel zur E-Mobilität vor Augen und nachlassende Benzin- und Dieselverkäufe in Sicht, wollte auch Richard M., Tankstellenbesitzer in Nordrhein-Westfalen, sein Ge­schäft zukunftsorientiert umgestalten. E-Ladesäulen sollten künftig die Benzin-Zapfstellen ergänzen, so der Plan des Tankstellenbesitzers, mit dem er sich zur Finanzierung der Investition Richtung Hausbank aufmachte. Doch dort zeigte man ihm die kalte Schulter. Händlern von Mineralöl und Kraftstoffen, so beschied man Richard M., könne man leider keine Kredite mehr geben. Schließlich müsse die Bank ihre ESG-Ziele fürs Kreditportfolio erreichen. Richard M. hatte Glück: Dank Vermittlung eines einflussreichen Freundes gelang es, die perspektivisch CO2-mindernde Investition beim Vorstand der örtlichen Hausbank in ein ESG-gemäßes Licht zu rücken. Somit werden demnächst die Investitionsgelder und anschließend der Ladestrom fließen.

Green- und Brainwashing

Weniger Glück haben Unternehmen, wenn sie zur Finanzierung ihrer Transformation und schrittweisen Umgestaltung des Geschäftsmodells auf den Kapitalmarkt angewiesen sind. Dort ist ein ESG-Hype ausgebrochen, der nicht nur zu Greenwashing verführt, sondern auch die Versuchung von Brainwashing fördert. Und unternehmerisches Verhalten, das am Ende nicht das ge­wünschte nachhaltige und umweltverträgliche Wirtschaften auslöst, sondern Schwarzer-Peter-Spiele. Prominentes Beispiel der jüngeren Vergangenheit: Shell. Nachdem das Bezirksgericht in Den Haag im Mai den Ölkonzern per Urteil dazu verdonnerte, seine CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 45% gegenüber dem Stand von 2019 zu reduzieren, und es damit die von Shell selbst gesetzten Ziele einer Reduktion um 20% bis 2030 und Klimaneutralität bis 2050 gerichtlich nachbesserte, hat der Vorstand seine ESG-Lektion gelernt. Vor zehn Tagen hat Shell deshalb ihre Schieferöl-Assets in Texas für 9,5 Mrd. Dollar an den US-Mineralölkonzern ConocoPhillips verkauft. Für das Weltklima macht es zwar keinen Unterschied, ob das Schieferöl im Permian Basin von Shell oder Conoco gefördert wird. Doch Shell kommt ihrem CO2-Ziel­ näher, und ihre Aktionäre müssen sich weniger über steigende Temperaturen erhitzen, sondern dürfen sich an höheren Ausschüttungen und Aktienrückkäufen wärmen.

Ganz in diesem Sinne wird die vom Klimaschutz getriebene Transformation der Unternehmen von einem Wandel des Shareholder- zum Stakeholderkapitalismus begleitet. Mit Blick auf diesen Sinneswandel, der nicht zuletzt auch in den jährlichen Briefen von Larry Fink, dem Chef des weltgrößten Vermögensverwalters und Aktionärs BlackRock, an die von ihm investierten Unternehmen zum Ausdruck kommt, spiegelt das neue Kapitalismusverständnis weniger einen Wandel vom Saulus zum Paulus, sondern die Macht des Pensionskassenkorporatismus. Hunderte Millionen von Rentnern und Pensionären weltweit, vor allem aber in den USA, haben ihre Altersvorsorgegelder in die Hände von institutionellen Anlegern gegeben und erwarten neben der finanziellen immer häufiger auch eine gesellschaftliche Rendite. Passive Investoren sind diese Kapitalsammelstellen nur hinsichtlich der Finanzinstrumente, nicht aber mit Blick auf Einflussnahme und Machtausübung. Letztere mag überwiegend hinter verschlossenen Türen und mittels der bekannten Stimmrechtsberater erfolgen, ist aber wirkungsvoll.

Diese neue Art von Stakeholderkapitalismus entfaltet ihre Wirkung vor allem dann, wenn nicht wie einst die Shareholder gegen die übrigen Stakeholder stehen, sondern sie sich verbinden und verbünden. Wenn beispielsweise ein kleiner aktivistischer Hedgefonds die großen institutionellen Investoren und Stimmrechtsberater hinter sich bringt und dem Management einen Umweltaktivisten ins Board setzt, wie bei ExxonMobil geschehen. Wenn beispielsweise die Politik den NGOs Klagerechte gegen Unternehmen und Vorstände einräumt, um vorgeblich gesamtgesellschaftliche Interessen durchzusetzen.

Die Stakeholder entscheiden

War es bisher schon schwierig für die Unternehmen beziehungsweise ihre Vorstände, die divergierenden Interessen von großen und kleinen Aktionären, von inländischen und ausländischen Investoren unter einen Hut zu kriegen, müssen sie sich darauf vorbereiten, dass Kunden, Beschäftigte, Fremdkapitalgeber, NGOs, Fiskus und politische Gruppen mit eigenen Forderungen kommen und diese durchzusetzen suchen. Grundlage dieses Stakeholderkapitalismus ist eine von ESG-Zielen geleitete Politik, die über Taxonomie-Regeln, Know-Your-Customer-Vorschriften oder Lieferkettengesetze massiv in unternehmerische Entscheidungen eingreift. Damit die mit der Führung der Unternehmen beauftragten Vorstände diese vielen Aspekte nicht aus dem Auge verlieren, werden sie künftig auch über die variable Vergütung daran erinnert. Jedenfalls werden die Aktionäre deutscher börsennotierter Unternehmen ab der Hauptversammlungssaison 2022 die Managergehälter an ESG-Kriterien orientieren (vgl. BZ vom 30.9.). Vorstandsgehälter sind künftig weniger eine Belohnung für erwirtschaftete Gewinne als vielmehr Aufwandsentschädigung fürs Beachten und Austarieren einer Vielzahl von Vorschriften und ESG-Kennziffern.

Bei den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen in Deutschland zu Bildung einer neuen Bundesregierung mag die Idee zur Etablierung eines Klimaministers mit Veto-Recht vielleicht noch verhindert werden. Bei börsennotierten Unternehmen hingegen scheint diese Idee im Zeitalter des Stakeholderkapitalismus schon Platz zu greifen. Ein ESG-Ausschuss im Aufsichtsrat, natürlich paritätisch besetzt, wird demnächst wohl nicht nur bei Bayer die Corporate Governance neu justieren. Man mag sich den Sturm der Entrüstung gar nicht vorstellen, sollte es das Bayer-Management wagen, gegen Empfehlungen des ESG-Ausschusses zu handeln. Und für den Bonus wär’s ja auch nicht gut.

c.doering@boersen-zeitung.de

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