Europas fataler Irrtum
Wettbewerbsfähigkeit
Europas fataler Irrtum
Einigkeit in der Diagnose der Defizite der Wettbewerbsfähigkeit bedeutet nicht Einigkeit über deren Behandlung.
Von Detlef Fechtner
Europa erliegt dieser Tage einem fatalen Irrtum. Weil alle einig darüber sind, dass die Europäische Union spürbar an wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit verliert, glauben viele, es herrsche auch Einigkeit darüber, wie Europa wieder wachstumsstärker, innovationsfreudiger und damit wettbewerbsfähiger werden kann. Das aber ist ein großes Missverständnis. Einigkeit in der Diagnose bedeutet nämlich noch längst nicht Verständigung über die richtige Behandlung. Insofern wirkt die vielerorts zu hörende Floskel, Europa habe kein Erkenntnisproblem, sondern nur ein Umsetzungsproblem, wie ein Versuch, eine wichtige Debatte abwürgen zu wollen. Wenig hilfreich ist zudem, dass sich die Diskussion oft in allgemeinen Losungen erschöpft. Schärfer formuliert: Der bloße Ruf nach „Bürokratieabbau“, „Investitionsoffensive“ oder „innovationsfreundlichem Umfeld“ bleibt plump, solange nicht präzisiert wird, was damit gemeint ist.
Beispiel Bürokratieabbau: Wer auf Proportionalität in der Gesetzgebung pocht, auf Berücksichtigung der Spezifika des deutschen Drei-Säulen-Modells, auf Ausnahmen für Förderbanken oder Institutssicherungssysteme, der kann schwerlich gleichzeitig darüber lamentieren, dass manche Finanzmarkt-Richtlinie mehrere Hundert Seiten umfasst. Denn müssten Europas Gesetzgeber nicht die vielen nationalen Sonderlocken berücksichtigen, wären ihre Rechtsakte nicht halb so dick. Selbst wenn er in die richtige Richtung weist, ist der Ruf nach weniger kleinteiligen und vielmehr prinzipienorientierten Vorgaben aus Brüssel nicht so trivial, wie es scheint. Die gleichen Kritiker sind nämlich schnell mit dem Vorwurf mangelnder Rechtssicherheit dabei, wenn Europas Gesetzgeber einmal Sachverhalte nicht präzise regeln, sondern Spielräume lassen.
Beispiel Investitionsoffensive: Ja, es gibt sicherlich sehr gute Gründe, gegenüber der Forderung nach gemeinsamer Schuldenaufnahme ausgesprochen skeptisch zu sein. Wer jedoch auf der einen Seite zustimmt, dass es einen gigantischen Finanzierungsbedarf für gemeinsame Infrastrukturen und Netze als Basis für Innovation und Wachstum gibt, muss andererseits äußerst gute Argumente haben, warum er jedwede Form europäischer Kreditaufnahme mit Abscheu und Empörung tabuisiert. Der Aufschrei hierzulande, den Mario Draghi mit seinem Plädoyer für ein „European Safe Asset“ provoziert hat, ist zumindest in der Striktheit, mit der gemeinsame Schuldtitel verteufelt werden, wenig zielführend.
Beispiel innovationsfreundliches Umfeld: Draghis Überlegungen, bei der Fusionskontrolle oder der Beihilfenaufsicht den künftigen Innovationsbeitrag der entstehenden Einheiten stärker zu berücksichtigen, sind mancherorts als gefährlicher Eingriff in das Wettbewerbsrecht gewertet worden. Auch die Tatsache, dass EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen im Ressortzuschnitt des neuen Kollegiums die Themen Wettbewerbskontrolle und grüne Transformation in Person von Teresa Ribera zusammenführt, sieht mancher mit Argwohn. Diese Reflexe sind zwar richtig, insofern bei der Berücksichtigung zusätzlicher Kriterien im Wettbewerbsrecht große Sorgfalt geboten ist. Wer sich aber komplett weigert, trotz des sich radikal verändernden Umfelds einer digitalen Ökonomie neue Kategorien bei der wettbewerbsrechtlichen Prüfung hinzuzuziehen, der darf nicht jammern, warum Europas Champions weltweit allenfalls zweitklassig rangieren.
Immerhin: Europa ist endlich dabei, über seine Defizite im Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsräumen zu streiten. Wettbewerbsfähigkeit ist das neue europäische Oberziel. Das ist wichtig und gut. Draghi und Letta und auch von der Leyen haben nun den nötigen Stoff geliefert, um „from rhetorics to specifics“ zu gelangen. In den nächsten Wochen und Monaten werden die EU-Kommission, die nationalen Regierungen und das EU-Parlament ausloten, wo ihr Hauptnenner liegt, um den schleichenden globalen Bedeutungsverlust der europäischen Volkswirtschaft aufzuhalten, indem Europas Wirtschaft wieder produktiver und kreativer wird. Und dann, aber eben erst dann kann und muss diese gemeinsame strategische Linie auch umgesetzt werden.