Frankreichs Probleme mit den AKWs
Er hat eine Mission, um die ihn nicht viele beneiden dürften. Luc Rémont erwartet bei EDF (Électricité de France) eine wahre Herkulesaufgabe. Denn er muss nicht nur die Rückverstaatlichung des Stromriesen durchführen. Er muss vor allem dafür sorgen, dass alle 56 Reaktoren in Frankreich in den nächsten Monaten laufen, damit EDF im Winter genügend produzieren kann. Der bisher bei Schneider Electric als Generaldirektor für das internationale Geschäft zuständige Manager, dessen Berufung als neuer EDF-Chef gerade vom Élysée-Palast bekannt gegeben wurde, muss aber auch die von Präsident Emmanuel Macron gewünschte Renaissance der Atomkraft vorantreiben und den Bau von sechs neuen EPR-Reaktoren der neuen Generation lancieren.
Der angesichts der Energiekrise dringlichste Auftrag Rémonts besteht darin, die Probleme des Atomkraftwerksparks in den Griff zu bekommen. Derzeit stehen 27 der 56 französischen Reaktoren still – wegen Wartungsarbeiten, die wegen der Pandemie zum Teil verschoben werden mussten, aber auch wegen Kontrollen und Reparaturen aufgrund von Korrosionsproblemen. Bei einigen Reaktoren ist es am Kreislauf des Notkühlsystems sowie einem anderen Kühlkreislauf zu Spannungsrisskorrosion gekommen. EDF hatte sie zunächst and fünf Reaktoren in Civaux, Chooz und Penly festgestellt und dann die Kontrollen ausgedehnt. Mittlerweile steht fest, dass mindestens zehn Reaktoren betroffen sind, bei fünf weiteren besteht ein entsprechender Verdacht.
Regierung macht Druck
Zudem bedarf der alternde Kraftwerkspark einer aufwendigeren Wartung. Ein Großteil der Reaktoren stammt aus den 80er Jahren, mehrere Reaktoren in Bugey, Tricastin und Dampierre sind bereits 1976 bis 1980 ans Netz gegangen. Macron will ihre Laufzeit nun wenn möglich auf über 50 Jahre verlängern.
Der Druck der Regierung auf EDF, die stillstehenden Reaktoren wieder in Betrieb zu nehmen, ist groß. „Ich vertraue wirklich darauf, dass EDF ihr Wiederinbetriebnahme-Programm in den nächsten Wochen und Monaten gewährleistet“, erklärte Premierministerin Élisabeth Borne kürzlich. „Das würde uns ersparen, wieder ein Kohlekraftwerk in Betrieb nehmen zu müssen.“
Ziel von EDF und Regierung sei, dass die stillstehenden Reaktoren im Februar wieder liefen, sagt Industrieminister Roland Lescure. Der scheidende EDF-Chef Jean-Bernard Lévy seinerseits versicherte vor zwei Wochen, dass je fünf Reaktoren ihren Betrieb wieder im September und im Oktober aufnehmen könnten, sieben im November, je drei im Dezember und Januar und zwei im Februar.
Die Atomstromproduktion soll deshalb 2023 wieder auf 300 bis 330 Terawattstunden (TWh) steigen, 2024 dann auf 315 bis 345 TWh. Für das laufende Jahr hat der Versorger die Prognose bereits mehrmals gesenkt. Statt ursprünglich 330 bis 360 TWh erwartet er nur noch das untere Ende der zuletzt vorhergesagten 280 bis 300 TWh.
Die französische Atomstromproduktion betrug 2018 noch 412,9 TWh und 2019 dann 379,5 TWh, so dass der Anteil von Atomstrom an der gesamten Stromerzeugung Frankreichs 70,6 % ausmachte. 2021, im Jahr nach der Abschaltung des ältesten Atomkraftwerks in Fessenheim, sank sie auf 295 bis 315 TWh.
Die Rechnung für den Stillstand fällt für den zuletzt mit 42,8 Mrd. Euro verschuldeten Stromriesen höher aus als zunächst angenommen. So dürfte er das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) in diesem Jahr nach jetzigem Stand mit 29 Mrd. Euro belasten. Ursprünglich hatte EDF die Ebitda-Effekte mit 18,5 Mrd. Euro beziffert, die Prognose dann aber im Juli auf 24 Mrd. Euro aktualisiert. Sollte die drohende Versorgungsknappheit im Winter zu neuen Preisspitzen führen, könnte die Rechnung für den Versorger noch teurer werden.
Bleibt die Frage, ob der Stromriese sein Versprechen, die stillstehenden Reaktoren in den nächsten Monaten wieder in Betrieb zu nehmen, erfüllen kann. „Wir verfolgen die Situation sehr genau und achten besonders stark darauf, dass der Kalender eingehalten wird“, sagt Energieministerin Agnès Pannier-Runacher. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist dennoch skeptisch. In der Vergangenheit hätten sich die Aussagen von EDF oft als zu optimistisch herausgestellt, erklärte er.
Immerhin musste der Atomkraftwerksbetreiber die eigentlich für den 21. September geplante Wiederinbetriebnahme des Reaktors Bugey 2 auf Oktober verschieben. Auch Gravelines 3 sollte eigentlich noch im September wieder Strom produzieren und nicht erst wie jetzt geplant Mitte Oktober. Bereits im August war es zu Verzögerungen bei vier von Korrosionsanomalien betroffenen Reaktoren gekommen, weil die erforderlichen Arbeiten länger dauerten als erwartet. Sie sind nicht nur technisch komplex, sondern auch arbeitsrechtlich. Denn die Reparaturen müssen an Rohren in der Nähe des Herzen des Reaktors vorgenommen werden, weshalb die Techniker, die sie durchführen, Strahlungen ausgesetzt sind. Dabei darf eine bestimmte Dosis nicht überschritten werden.
Dazu kommt der Fachkräftemangel, den EDF zu spüren bekommt. „Wir stehen einer Anhäufung von unerwarteten Aktivitäten gegenüber, für die Rohrwerker, Schweißer und Kesselbauer spezielle und seltene Kompetenzen benötigen“, sagt Noch-Konzernchef Lévy. „Dieses Defizit an Kompetenzen beeinträchtigt unsere Kapazität, die Reparaturen in dem Rhythmus durchzuführen, den wir uns wünschen würden.“
Da EDF Schwierigkeiten hat, in Frankreich genügend Fachkräfte wie eben Schweißer, Kesselbauer oder Rohrwerker zu finden, rekrutiert der Versorger inzwischen Mitarbeiter in Rumänien, Portugal und anderen europäischen Ländern und bildet sie aus. Doch das dauert in der Regel drei Jahre.
Nicht nur deshalb ging der Chef der Atomsicherheitsaufsicht ASN (Autorité des sûreté nucléaire), Bernard Doroszczuk, im Mai davon aus, dass es Jahre dauern wird, die Korrosionsprobleme zu beheben. Zumal sich EDF vorgenommen hat, bis 2025 alle Reaktoren darauf mit Hilfe eines Ultraschallverfahrens zu untersuchen. Sollten weitere Reaktoren betroffen sein, wären weitere wochenlange Stilllegungen nötig. Die turnusmäßigen Wartungsarbeiten gehen ebenfalls weiter. Für 2024 sind beispielsweise sieben vertiefte, sogenannte Zehnjahresprüfungen geplant, für die die Reaktoren fünf bis sechs Monate stillstehen müssen.
Sondergenehmigung
Dazu dürfte in Zukunft ein weiteres Problem kommen: der Klimawandel. Einen kleinen Vorgeschmack darauf hat es im Sommer gegeben, als EDF wegen der hohen Temperaturen die Leistung mehrerer Reaktoren drosseln musste. Nach Angaben von Yves Marignac von der atomkritischen Vereinigung Négawatt wird sich die Produktion des französischen Atomkraftwerksparks in diesem Jahr auch deshalb auf gerade mal 55 % seiner theoretischen Leistung belaufen. Normalerweise, so der Experte, betrage die Leistung eines Parks wie desjenigen von EDF auf 80 %, wenn alles gut funktioniere. Die Produktion der französischen Wasserkraftwerke dürfte 2022 wegen der Dürre im Sommer ebenfalls 15 % geringer als sonst ausfallen.
Dass der Stromriese während der Hitzeperiode im Sommer keinen Reaktor abschalten musste, hat er nur einer Sondergenehmigung zu verdanken, die ihm ermöglichte, das Kühlwasser zurück in Flüsse zu leiten, obwohl es die erlaubte Temperaturgrenze dafür eigentlich überschritten hatte.
„Der Klimawandel wird den Betrieb der Reaktoren dauerhaft beeinträchtigen, auch wenn es nicht so weit geht, dass dadurch die Sicherheit direkt betroffen ist“, sagt Marignac. „Wenn man die kurzfristig gewährten Ausnahmeregelungen für den Ausstoß von zu warmem Wasser sieht, hat das natürlich Auswirkungen auf die Umwelt. Wir sind erst am Anfang des Klimawandels.“ EDF könne darauf jedoch immer nur im jeweiligen Moment reagieren, da die Zeit nicht ausreiche, das Material der Reaktoren so anzupassen, dass es höheren Temperaturen länger als vorgesehen standhalten könne.
Trotz der langfristigen Herausforderungen treibt Politiker momentan vor allem die Frage um, wie viel Strom Frankreich im Winter produzieren kann. Die für die Stromübertragung zuständige Gesellschaft RTE (Réseau de transport d’électricité) hat Mitte September Entwarnung gegeben. „Frankreich riskiert in keinem Fall einen Blackout, also den kompletten Ausfall seines Stromsystems“, erklärte sie.
Das Risiko, dass es zu Stromausfällen kommen könnte, könne jedoch nicht komplett ausgeschlossen werden. Diese könnten vermieden werden, wenn der Stromverbrauch um 1 % bis 5 % gesenkt werde, bei extremem Wetter, sprich sehr niedrigen Temperaturen, um bis zu 15 %.
Zurück in die Zukunft
Angesichts der Energiekrise träumen einige Atom-Nostalgiker nun von einer Reise zurück in die Zukunft. Sie hoffen, dass EDF wie 1973 während der Ölkrise von der jetzigen Situation profitieren kann, um die Renaissance der Atomkraft einzuleiten. Seinerzeit hatte der damalige Präsident Georges Pompidou einen Plan zur Entwicklung der Atomenergie vorangetrieben, um die Abhängigkeit von Heizölkraftwerken zu verringern. Dieser dann von Valéry Giscard d’Estaing weiterverfolgte Plan sah den Bau von sechs Reaktoren pro Jahr vor.
Ganz so ambitioniert ist Macron nicht. Er will sich zunächst mit dem Bau von sechs EPR-Reaktoren einer neuen Generation begnügen – mit der Option für acht weitere. Allerdings will er jetzt seinen im Februar angekündigten Plan dafür beschleunigen, damit der Bau der ersten neuen Reaktoren noch vor Ende seines zweiten Mandats im Frühjahr 2027 beginnen kann.
Seine Regierung hat deshalb bei dem Rat für den ökologischen Wandel gerade einen Gesetzentwurf zur Konsultation eingereicht. Er soll helfen, die für den Bau notwendigen Verfahren zu verkürzen. Dafür sollen die Reaktoren als Projekte für das Gemeinwohl qualifiziert werden. Der von Umweltschutzorganisationen und Atomgegnern kritisierte Text soll dem Ministerrat im Oktober vorgelegt werden, so dass die neuen Bestimmungen ab dem zweiten Quartal 2023 in Kraft treten können.
Ziel ist, die ersten neuen Reaktoren 2035/36 in Betrieb zu nehmen. EDF will sie an bereits bestehenden Reaktorstandorten bauen: je zwei neue Reaktoren in Penly und Gravelines. Für die verbleibenden zwei stehen Tricastin und Bugey zur Wahl.
Der bisher einzige EPR-Reaktor Frankreichs steht in Flamanville, ist aber noch nicht in Betrieb. Ursprünglich war vorgesehen, ihn 2012 ans Netz anzuschließen, doch wegen immer neuer Verzögerungen war zuletzt von Mitte 2023 die Rede. Der Bau des ersten europäischen EPR-Reaktors im finnischen Olkiluoto dauerte zwölf Jahre länger als geplant. Er hat gerade angefangen, den ersten Strom zu produzieren.
Sowohl Flamanville als auch Olkiluoto haben sich wegen der Verzögerungen erheblich verteuert. In Flamanville haben sich die zuletzt auf 12,7 Mrd. Euro geschätzten Kosten vervierfacht, in Olkiluoto verdreifacht. Kritiker zweifeln deshalb daran, dass die Zeit- und Kostenpläne für den Bau der neuen EPR-Reaktoren realistisch sind.
Im Februar hatte die Regierung die Kosten des Baus der sechs Reaktoren auf 51,7 Mrd. Euro geschätzt. Inzwischen kursieren aber auch höhere Schätzungen von 64 Mrd. Euro. Wie hoch auch immer die Kosten ausfallen werden – Frankreichs Atomreaktoren werden auch in Zukunft mit Sicherheit weiter für Schlagzeilen sorgen.
Von Gesche Wüpper, Paris