Impfstreit

Gefährliche Nachbarn

Die Briten blicken mit zunehmender Sorge auf die EU. Ein Exportverbot könnte die Impfkampagne auf der Insel gefährden. Dass die EU eine „Europa First“-Strategie auspackt, hatte Großbritannien nicht erwartet.

Gefährliche Nachbarn

In Großbritannien hat sich die Wahrnehmung der Europäischen Union in den vergangenen Wochen drastisch geändert. Statt als Freunde und Verbündete werden die Nachbarn vermehrt als Bedrohung gesehen. Mehr als ein Viertel der Briten, die 2016 gegen den Austritt aus der Staatengemeinschaft gestimmt haben, sehen den Brexit einer aktuellen Umfrage zufolge inzwischen in einem besseren Licht. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian trug mit der kaum verbrämten Drohung, Millionen von Briten die zweite Impfdosis vorzuenthalten, seinen Teil dazu bei. Es geht dabei um vertraglich vereinbarte Lieferungen des von Pfizer und Biontech in Belgien hergestellten Produkts, die von der EU untersagt werden könnten. Dadurch würde der Fortschritt der britischen Impfkampagne stark verzögert. Die Immunisierung der Bevölkerung dürfte dann Monate länger dauern als geplant, eine wirtschaftliche Erholung noch weiter in die Ferne rücken.

Hatte das Gebaren der EU-Kommission­ im Streit mit dem Pharmakonzern AstraZeneca zuvor in erster Linie Kopfschütteln hervorgerufen, wird man sich jenseits des Ärmelkanals langsam des Ernstes der Lage bewusst. Schließlich hatte man im Vertrauen auf Vertragssicherheit so viele Menschen wie möglich geimpft, ohne im gleichen Umfang Zweitdosen vorzuhalten. Man fürchtete zwar, dass Donald Trump Exportverbote für Vakzine verhängen würde, hatte aber nicht auf dem Radar, dass die EU auf eine „Europe First“-Politik umschalten könnte. Die Verhandlungen mit Brüssel über eine bessere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie sind offenbar festgefahren. Sonst würde man in den britischen Medien gerade nicht so viel über den Moderna-Impfstoff hören, der die Lücke füllen soll, die durch ausbleibende Lieferungen vom Kontinent womöglich entsteht.

Le Drian ist kein Außenseiter. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte sich dafür ausgesprochen, alle Impfstoffexporte zu verbieten, bis die Hersteller ihren Verpflichtungen gegenüber der Staatengemeinschaft nachkommen. Der EU-Gipfel stellte das dafür nötige Instrumentarium bereit, auch wenn manche Regierungschefs noch die Hoffnung äußerten, dass man nicht darauf zurückgreifen müsse. Wie die vermeintlichen Verpflichtungen von AstraZeneca aussehen, ist weiterhin unklar. Man darf aber annehmen, dass die Juristen der EU-Kommission das britisch-schwedische Unternehmen längst vor Gericht gezerrt hätten, wenn sie auch nur die geringste Chance sähen, ihre Forderungen durchzu­setzen. Stattdessen übt man sich, so nimmt man es zumindest in Großbritannien wahr, in Großmachtpolitik. Von elementarer Bedeutung ist, dass nicht die EU Impfstoffe herstellt, sondern multinationale Konzerne, die Produktionsanlagen auf dem Kontinent angesiedelt haben. Exportverbote werden kaum dafür sorgen, dass diese Unternehmen weiter in der Staatengemeinschaft investieren. Auch der Aufbau eigener Produktionskapazitäten dürfte schwierig werden, wenn die Hersteller fürchten müssen, dass ihnen erboten wird, ihren vertraglichen Verpflichtungen mit anderen Ländern nachzukommen.

Es ist noch gar nicht lange her, dass die Europäische Union – entgegen allem Wortgeklingel zur Bedeutung des nordirischen Friedensprozesses – Kontrollen an der inneririschen Grenze durchführen wollte, um imaginäre Impfstofflieferungen ins Vereinigte Königreich aufzuhalten. Damals zog man gerade noch rechtzeitig die Notbremse. Inzwischen kann man nur hoffen, dass es noch zu einer Einigung zwischen London und Brüssel kommt.

Viele Briten sehen AstraZeneca als Ziel einer Desinformationskampagne, mit der davon abgelenkt werden soll, wer die Verantwortung für das Scheitern des Brüsseler Impfstoff-Beschaffungsprogramms trägt. Andere äußern die Sorge, dass sich in Europa impfstoffresistente Varianten des Virus ausbreiten könnten, wenn die Immunisierung der Bevölkerung dort weiterhin nur im Schneckentempo vorankommt. Die Furcht vor den europäischen Nachbarn drückt sich unter anderem darin aus, dass Großbritannien mittlerweile von Lkw-Fahrern aus der EU einen negativen Coronatest verlangt. Die britische Seite wäre angesichts der dramatischen Zunahme der Infektionen auf dem Kontinent wohl bereit, auf einen Teil der AstraZeneca-Impfdosen aus der niederländischen Stadt Leiden zu verzichten. In Großbritannien wird ohnehin diskutiert, wie man den Menschen in Europa helfen kann. Es wäre eine gesichtswahrende Lösung für beide Seiten.