Einzelhandel

Gesundheit vor Umsatz

Das Weihnachtsgeschäft ist für den stationären Handel eine herbe Enttäuschung. Um den Umsatzeinbruch in Grenzen zu halten, fordert der Handelsverband Deutschland (HDE) eine Abkehr von der 2G-Regel, die unverhältnismäßig sei. Das ist schamlos.

Gesundheit vor Umsatz

Der Handelsverband Deutschland (HDE) fürchtet um die Existenz zahlreicher stationärer Einzelhändler, insbesondere in Innenstadtlagen. Wieder einmal. Oder besser: Immer noch. Denn seit sich das Coronavirus hierzulande auszubreiten begann und Bund und Länder Maßnahmen zur Eindämmung beschlossen, die die Geschäfte der Präsenzhändler beeinträchtigten, wird der Verband nicht müde, auf deren Umsatzausfälle hinzuweisen und vor einer drohenden Insolvenzwelle zu warnen – die bislang jedoch ausblieb.

Noch vor zwei, drei Monaten hatte auch der in Teilen angeschlagene stationäre Handel dem Jahresende zuversichtlich entgegengesehen. Doch nun erweist sich das Weihnachtsgeschäft als herbe Enttäuschung. Gemäß einer Erhebung des HDE sind zwei Drittel der befragten Händler unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf. Das ist selbst im Vergleich mit anderen Krisenjahren ein hoher Wert. Bei weiter geltenden Zugangsbeschränkungen für die Geschäfte sehe etwa die Hälfte der befragten Non-Food-Händler ihre Existenz in Gefahr. Daher fordert der Verband die Abkehr von der 2G-Regel im Handel, wonach nur geimpfte oder genesene Personen Zutritt zu Innenräumen von Geschäften haben. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Lüneburg, das jüngst die 2G-Regel für den Einzelhandel in Niedersachsen kippte, wird daher vom HDE begrüßt. Dass wenige Tage zuvor das OVG in Schleswig einen Eilantrag gegen die 2G-Pflicht im nördlichsten Bundesland verworfen hatte, erklärt den Ärger im Handel über den Regelungswirrwarr und belegt, dass der Verband mit dem Ruf nach einer bundeseinheitlichen Regelung der 2G-Pflicht und jeder anderen Abwehrmaßnahme gegen die Ausbreitung von Corona-Mutanten recht hat. Die Forderung nach Abschaffung von 2G ist allerdings selbstsüchtig.

Der stationäre Einzelhandel in Deutschland gehört – mit Ausnahme der Geschäfte, die der Grundversorgung dienen (Lebensmittel, Drogerieartikel, Tierbedarf etc.) – zu den am schwersten von den staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen gebeutelten Branchen. Doch zum einen hat sich gezeigt, dass die Lage der Händler längst nicht so dramatisch ist, wie es die Lobbyisten vom HDE darstellen; zum anderen hat die Gesundheit der Bevölkerung Priorität. Die Aufhebung einer von den politischen Entscheidungsträgern beschlossenen Vorsorgemaßnahme zu fordern, nur weil die Lage für einige Ladenbetreiber prekär geworden ist, ist schamlos und gefährlich. Wenn der HDE glaubt, „funktionierende Hygienekonzepte und Maskenpflicht“ genügten, um die Virusverbreitung zu stoppen, mag er vielleicht sogar recht haben. Vielleicht aber auch nicht. Wer vermag das schon mit Sicherheit zu sagen? Doch der Verband feuert die Spaltung der Gesellschaft an, wenn er – wie kürzlich – behauptet, die Politik habe den Zugang zu den Geschäften aus „rein symbolischen Gründen massiv eingeschränkt“. Das ist Wasser auf die Mühlen der sogenannten Querdenker.

Der HDE hat in der Krise die Geschäftslage seiner Mitglieder auch zu oft übertrieben schwarz gemalt und ist in seinen Forderungen übers Ziel hinausgeschossen. Damit hat der Verband viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Erinnern wir uns: Bis zu 50000 Geschäfte mit rund 250000 Beschäftigten hätten keine Perspektive mehr, wenn die Finanzhilfen des Bundes nicht aufgestockt und dann unbürokratisch und schnell ausgezahlt würden, lautete das Schreckensszenario des HDE vor einem Jahr. Aber die massenhaften Pleiten blieben aus – trotz zweier harter Lockdowns, von denen einer Mitte Dezember 2020 in Kraft gesetzt wurde, was das für viele stationäre Einzelhändler wichtige Weihnachtsgeschäft schon im Vorjahr zum Desaster werden ließ. Kam es daraufhin zu zahllosen Bankrotterklärungen? Im Gegenteil!

Gemäß Destatis wurden im ersten Halbjahr 2021 rund 7400 beantragte Unternehmensinsolvenzen gemeldet. Das waren knapp 18% weniger als im ersten Semester 2020 und 23% weniger als im von der Coronakrise unbeeinflussten ersten Halbjahr 2019. Dass die Zahl der Unternehmensinsolvenzen so niedrig war, dürfte im Wesentlichen an den Überbrückungshilfen des Staates gelegen haben, die wohl längst nicht so dürftig waren und auch nicht so schleppend ausgezahlt wurden, wie es der HDE immer suggerierte. Ein übler Nebeneffekt: Die Finanzhilfen der öffentlichen Hand kamen auch Unternehmen zugute, die ihr Geschäft in normalen Zeiten bereits hätten aufgeben müssen. Das Leben dieser Zombie-Firmen wurde nun künstlich verlängert. Das wird sich rächen.

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