Im Land der konstanten Preise
Von Martin Fritz, Tokio
Wieder einmal stehen Ökonomen vor einem Japan-Rätsel: Warum bewegen sich dort die Preise kaum, während der Rest der Welt über hohe Inflation stöhnt? Die Preisrate in Deutschland stieg im Oktober um 4,5%, in der EU um 4,1% und den USA um 6,2% – Japan meldete den zweiten Monat in Folge ein Miniplus von 0,1%. Rechnet man die Posten für Energie und frische Lebensmittel heraus, ändert sich das Bild nicht: Die deutsche Kernrate betrug 2,9%, die EU-Rate 2% und die US-Rate 4,6%. Dagegen meldete Japan eine Kernrate auf minus 0,7%. Der negative Wert verblüfft, weil die Produzentenpreise um 7,9% – im höchsten Tempo seit 1980 – kletterten, angetrieben durch die Verteuerung der Importe um 38% in Yen, zum Beispiel von Öl und Holz.
Allerdings zeigt auch in Japan der Preistrend eindeutig nach oben. Im Oktober verdeckte ein kräftiger Rückgang der Tarife für mobiles Telefonieren die sich regende Inflation. Aber laut lokalen Presseberichten verteuern sich bald unter anderem Brotwaren, Speiseöl und Sojasauce. Der ohnehin hohe Strompreis ist in Japan indirekt an die Energiekosten gekoppelt und wird daher steigen. Die Bank of Japan sagt für 2022 eine Kernrate von 0,9% vorher. Die Analysten von Morgan Stanley MUFG rechnen mit einem Anstieg der Kernrate auf 1,5% bis April, bei einem Ölpreis von 100 Dollar und einem Wechselkurs von 117 Yen/Dollar sogar auf 2%. Aber danach soll die Inflationsrate wieder sinken. „Der Abstand zwischen Japan und anderen großen Volkswirtschaften wird hoch bleiben“, so die Japan-Ökonomen von Barclays.
Die starke Teuerung in Europa und den USA erklären Analysten mit den gestörten Lieferketten, den hohen Staatsausgaben und dem billigen Geld der Zentralbanken. Diese drei Faktoren treffen genauso auf Japan zu, ohne dass jedoch die Inflation kräftig anzieht. Gouverneur Haruhiko Kuroda begründet die Tatsache, dass die Bank of Japan trotz lockerer Geldpolitik ihr Inflationsziel von 2% nicht einmal annähernd erreicht hat. Nach 20 Jahren milder Deflation mit konstanten Preisen und Einkommen könnten die Japaner sich eben keine andere Wirtschaft mehr vorstellen, meint Kuroda. Tatsächlich kostet das Bier in der Kneipe, die Nudelsuppe im Restaurant, die Reinigung eines Hemdes oder der Besuch im Schönheitssalon heute genauso viel wie Ende der neunziger Jahre. Auch Vorräte legt kaum jemand an, alles kostet ja morgen genauso viel.
Die Preissensibilität der Konsumenten ist legendär. Umfragen zufolge wollen sie bei einer Preiserhöhung lieber das Geschäft oder zur Ware eines günstigeren Herstellers wechseln, als mehr zu bezahlen. Wenn ein bekanntes Unternehmen einen Preis erhöht, dann sorgt es damit für Schlagzeilen auf den Titelseiten. Die wenigen Hersteller, die eine Erhöhung wagen, verlieren so viele Kunden, dass sie die Preise oft wieder senken. Diesen Lernprozess durchlebte zum Beispiel der größte Textileinzelhändler Uniqlo. Denn die Einkommen stagnieren ebenfalls, die Haushalte können also nicht mehr ausgeben. Auch damit haben sich die meisten Japaner abgefunden. Die „deflationäre Mentalität“ könnte wiederum eine traumatische Reaktion auf den in Japan „Preiszerstörung“ genannten Wertverlust von Aktien und Immobilien um bis zu 90% nach dem Ende der 1980er-Blasenwirtschaft sein.
Andere Ökonomen verweisen auf den notorisch schwachen Privatkonsum als Ursache für die anämische Inflation, schließlich seien die Preise ein „Thermometer der Wirtschaft“. Der Privatkonsum lag im abgelaufenen Quartal immer noch um 3,5% unter dem Wert vor der Pandemie. Die Ausgaben für langlebige Güter wie Fernseher und Autos stagnieren seit acht Jahren. Ein ähnlicher Trend lässt sich laut UBS Japan bei Kapitalgütern beobachten. Die Anhebungen der Umsatzsteuer auf 8% (2014) und 10% (2019) spielten dabei wohl eine wichtige Rolle. Die Trends legen einen Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung nahe. Über 29% der Japaner sind älter als 65 Jahre, Japan liegt damit 6 Prozentpunkte vor Italien. Die Zahl der Japaner und damit der potenziellen Konsumenten schrumpfte 2020 um netto 532000 bzw. 0,4% der Gesamtbevölkerung.
Premier Fumio Kishida hat versprochen, die Einkommen durch Wachstum und Umverteilung zu steigern. Dadurch könnte eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommen. Aber in dem schrumpfenden Gesamtmarkt achten Dienstleister und Produzenten zu sehr auf ihre Kosten, als dass diese Rechnung aufgehen könnte. Der Inflationsexperte Tsutomu Watanabe von der Universität Tokio meint, die Hersteller gäben höhere Lohnkosten nicht an die Konsumenten weiter. Tatsächlich haben sich die kontinuierlichen Anhebungen der Mindestlöhne in den acht Regierungsjahren von Shinzo Abe und die erhöhten Stundenlöhne in der Service-Industrie infolge des Arbeitskräftemangels nicht in den Verbraucherpreisen niedergeschlagen.
Nach Ansicht von Watanabe wird die Inflation in Japan nur dann zunehmen, wenn Löhne und Preise gleichzeitig stiegen. Dafür sollte die Bank of Japan einen neuen Zielwert für das Einkommenswachstum einführen. „Eine vierprozentige Gehaltssteigerung findet bei den Bürgern eine breitere Unterstützung als eine zweiprozentige Inflationsrate“, argumentiert Watanabe. Seine Idee lautet, eine vorübergehende Kartellbildung zuzulassen, damit die Hersteller die Preise zeitgleich erhöhen. Die Zeit für radikale Maßnahmen sei gekommen, meint er.