Wie Italien die Mittel der EU verschleudert
Italien und die Mittel des Europäischen Wiederaufbauprogramms
Wie Italien die Mittel der EU verschleudert
Das Land ist größter Nutznießer europäischer Hilfsprogramme – aber die Gelder werden nicht oder schlecht investiert
Von Gerhard Bläske, Mailand
Italien ist der bei weitem größte Nutznießer des europäischen Wiederaufbauprogramms NextGenerationEU und der damit verbundenen Programme wie Repower EU oder React EU: 237 Mrd. Euro soll das Land bis 2026 insgesamt aus Europa erhalten. Gerade ist die dritte Rate ausgezahlt und die Zahlung der vierten beantragt worden. Doch das Geld ist schlecht angelegt: „Ich fürchte, wir schaffen es nicht“, sagt der Ökonom Tito Boeri, der zu dem Thema gerade mit Roberto Perotti das Buch „Das große Saufgelage“ veröffentlicht hat. „Am Ende wird Italien noch mehr Schulden haben, seine strukturellen Probleme aber nicht gelöst haben“, glaubt er.
Die europäischen Mittel sollen eigentlich dazu beitragen, durch Investitionen in die Modernisierung und die Digitalisierung das Potenzialwachstum anzuheben. Das wäre für das in Höhe von 140% des Bruttoinlandsprodukts verschuldete Italien von zentraler Bedeutung. Aber Boeri glaubt, dass viel zu viel Geld in viel zu kurzer Zeit ins Land strömt und das Geld entweder nicht oder schlecht ausgegeben wird. Angesichts des Geldregens herrsche eine regelrechte Ausgaben-Euphorie. Rom hat Mittel immer leichtfertig ausgegeben, etwa für extrem großzügige Vorruhestandsregelungen, Corona-Hilfen oder üppige Bonuszahlungen. Aber so viel Geld in so kurzer Zeit stand dem Belpaese noch nie zur Verfügung.
Es besteht die Gefahr, dass es nur ein kurzes Strohfeuer geben wird. Noch wächst Italien – im Gegensatz etwa zu Deutschland. Hauptgrund sind aber die europäischen Hilfen, die 2026 auslaufen sollen. Vor allem im Süden des Landes, wohin 40% der Mittel fließen sollen, sind die Verantwortlichen wegen des Mangels an qualifiziertem Personal weder personell noch strukturell in der Lage, die Mittel vernünftig zu verplanen.
Das eklatanteste Beispiel für die Verschwendung der Mittel aber ist der sogenannte Superbonus 110 zur ökologischen Sanierung von Gebäuden. Die unter Premierminister Giuseppe Conte eingeführte Maßnahme, die Nach-Nachfolgerin Giorgia Meloni (erst) Ende 2023 beendete, erstattete vor allem Eigentümern teurer Häuser nicht nur die Kosten für die ökologische Sanierung – nein, sie erhielten sogar noch einen Zusatzbonus. Insgesamt wurden 110% der Gesamtkosten erstattet. Das ist weltweit einzigartig. Von diesem Selbstbedienungsladen profitierten nicht nur die Immobilieneigentümer, sondern auch Bauunternehmen, die Mondpreise ansetzen konnten, weil die Kosten ja vollständig übernommen wurden. Auch die Banken sind Nutznießer, weil sie die Steuergutschriften teilweise aufkauften. Und auch Kriminelle hielten die Hand auf, weil oft fingierte Rechnungen ausgestellt wurden – ohne dass Arbeiten ausgeführt worden wären.
Unsinnige Vorhaben
Die Sanierung von gerade mal 3% der Gebäude kostet den Staat mindestens 140 Mrd. Euro. Was aber dem Fass den Boden ausschlägt, ist, dass Europa den Wahnsinn mit 18 Mrd. Euro aus dem Wiederaufbauprogramm mitfinanziert.
Der Fall ist auch ein Beispiel dafür, dass der große Geldregen dazu verführt, auch völlig unsinnige Vorhaben zu finanzieren.
Neben dem Zeitmangel sind die gesetzten Ziele völlig unrealistisch. Zudem hatte Italien seit Lancierung des Programms drei unterschiedliche Regierungen, die die Pläne allesamt überarbeitet haben – „zum Schlechteren“, findet Boeri. „Es fehlen klare Ideen, ein klares Projekt. Es wäre besser, sich zu fokussieren“, sagt Renzo De Felice, Professor an der Università degli Studi in Neapel sowie Chef und Gründer des IT-Dienstleisters Protom. Und Giovanni Pelazzi, CEO der Zertifizierungsgesellschaft Argenta SOA, fügt hinzu: „Einige Maßnahmen stehen im Widerspruch zu den Zielen. Das Risiko, eine historische Chance zu verspielen, ist enorm.“
Die Hilfen sind an Bedingungen geknüpft – vor allem an Reformen. Doch die werden nicht oder nur unzureichend umgesetzt. Ob es um die Liberalisierung des Taxi- oder des Energiemarktes geht, um Reformen des Arbeitsmarktes, der Schule oder der Justiz – alles ist blockiert. Ein Symbol für den Reformstillstand, das jedoch nichts mit den aktuellen Hilfen zu tun hat, ist die seit fast 20 Jahren verschleppte Neuausschreibung der Konzessionen für die Strandbäder.
„Es wäre besser, erst die Reformen durchzuführen und dann das Geld für Investitionen bereitzustellen“, meint Ivo Allegro, Gründer und Partner des international tätigen Finanzberaters Iniziativa. „Wir brauchen Reformen, weil wir die schlechteste Bürokratie Europas haben“, sagt Luigi Barone, verantwortlich für die wirtschaftliche Entwicklung in der süditalienischen Region Benevento bei Neapel. „Vor allem in Süditalien ist die öffentliche Verwaltung sehr schwach“, attestiert ihm Allegro. So verzichtete etwa Sizilien, wo es kaum Kinderkrippen gibt, auf 40% der Mittel, die der Insel dafür zugestanden hätten. Ähnlich wie beim europäischen Kohäsionsfonds für den Zeitraum 2014 bis 2020, aus dem Italien nur 34% der Mittel abgerufen hat, sind bei NextGeneration bisher deutlich weniger als die Hälfte der zum aktuellen Zeitpunkt ursprünglich projektierten Mittel tatsächlich ausgegeben worden. Der Großteil der bisher ausgegebenen Mittel floss in den Superbonus 110 und Eisenbahnprojekte – alles Vorhaben, die aus der Zeit vor dem europäischen Aufbauprogramm stammen und nun einfach mit den daraus stammenden Mitteln finanziert werden. Wirklich neue Projekte gibt es wenige.
Es kommt hinzu, dass gerade im Süden kriminelle Organisationen wie Camorra und Mafia die Hand aufhalten. Erleichtert wird ihnen das dadurch, dass Vizepremier Matteo Salvini die Grenze für Aufträge, die ohne Ausschreibungen vergeben werden können, deutlich auf 5,3 Mill. Euro heraufgesetzt hat. Das stieß nicht nur bei Giuseppe Busia, Chef der Antikorruptionsbehörde, auf Kritik, sondern auch bei Carlo Bonomi, Präsident des Industriellenverbandes Confindustria. Effektive Kontrollen über die Verwendung der Mittel sind kaum möglich.
Die Gefahr ist enorm, dass die historisch einmalige Chance, das Land nach vorn zu bringen, verspielt wird. Statt die Wirtschaft strukturell zu stärken, könnten am Ende wieder nur symbolische Einzelprojekte stehen. Etwa der Bau einer Brücke nach Sizilien ohne eine adäquate Verbesserung der Infrastruktur in der Breite. Oder die Verstaatlichung des seit jeher defizitären Stahlwerks von Taranto, das mit Milliarden aus Europa auf eine „grüne Produktion“ umgerüstet werden soll.
Problem Wartung
Und auch Mittel für die Wartung von neuen Bauwerken sind nicht eingeplant. „Es genügt nicht, nur Infrastrukturen zu bauen, man muss sie auch unterhalten, um dauerhaft Nutzen daraus ziehen zu können“, meint Ivo Allegro. Welche Folgen fehlende Wartung haben kann, zeigt der Einsturz der Autobahnbrücke von Genua in drastischer Weise. Für Stefano Caselli, Dekan der renommierten Mailänder Bocconi School of Management, wäre ein Scheitern des Europäischen Aufbauprogramms „ein Problem nicht nur für Italien, sondern für Europa“.
Tunnelbau zwischen Mailand und Genua: Die Bahnhochgeschwindigkeitsstrecke zwischen den beiden Städten wird auch mit Mitteln des Europäischen Wiederaufbauprogramms finanziert.