Kunst und Diamanten statt Immobilien
Dass Besitz und Eigentum nicht überall sakrosankt, sondern dort wie da nur ein temporäres Gut sind, weiß wohl kaum ein Volk so gut wie die Russen. Ein Abstimmungsergebnis wie am Wochenende in Berlin, wo sich eine deutliche Mehrheit für die partielle Enteignung großer Wohnungskonzerne ausgesprochen hat, ist für die Russen mit ihrer Geschichte zwar nicht grundsätzlich ungewöhnlich. Verwunderlich aber ist etwas anderes: Wie konnte es in Europas größter Volkswirtschaft mit ihrer marktwirtschaftlichen Grundordnung, zu der zumindest die russische Mittel- und Oberschicht im Land immer noch achtungsvoll hin-, wenn nicht gar aufblickt, so weit kommen?
Die unrühmliche Geschichte von Abwertung, Entwertung und eben auch Enteignungen sitzt den Russen nach 70 Jahren kommunistischer Staatsdiktatur wie ein Schock in den Gliedern. Auch sind sie historisch zu gut gebildet, um nicht zu wissen, dass etwa die Enteignungen in der Landwirtschaft zwischen 1918 und 1920 zur Verelendung und zu Hungersnöten geführt haben, weshalb ja selbst die Kommunisten ab 1921 mit der sogenannten Neuen Wirtschaftspolitik (NEP) teilweise wieder marktwirtschaftliche Methoden zulassen mussten. Zumindest für einige Jahre, ehe mit Stalin ohnehin alles im Terror erstickte.
Die negativen Erfahrungen mit Eigentum gingen auch nach der Sowjetzeit weiter. Ab den 1990er Jahren folgte vor allem im Geschäftsleben die Praxis der sogenannten Raiderattacken: Unternehmern wurde ihre Firma, so sie denn gut lief, von Konkurrenten, Banditen oder einfach staatsnahen Personen weggeschnappt. Das Phänomen hält auch in der Putinzeit an – nur dass nicht immer physische Gewalt ins Spiel kommt, sondern stilistisch feinere Methoden bis hin zur finanziellen Abgeltung zu einem diktierten Tiefpreis.
Paradox in Russland ist, dass mit Putins Amtsantritt in der Bevölkerung ein fast kindlicher Glaube an den Staat als starke Institution zurückgekommen ist – jenen Staat, der etwa bei der Privatisierung in den Neunzigern so viel verbockt hat. Die Renationalisierung ganzer Branchen in den Nullerjahren, allen voran der Ölindustrie, fand unter Applaus der Bevölkerung statt.
Für die Menschen selbst aber wurde der Besitz einer Wohnung zu einem der höchsten Güter. Anfangs durch die Privatisierung aus Staatshand, später mit aufkommendem Wohlstand durch Geldanlage in Immobilien. Von der gehobenen Mittelschicht aufwärts wurde zunehmend auch der Immobilienbesitz im Ausland beliebt. Einerseits, um für eine mögliche Auswanderung vorzubauen, andererseits, um Geld vor dem Zugriff des Staates hinauszuschaffen.
Dieser Trend geriet zuletzt ins Stocken. Das jedenfalls behauptet die Immobilienagentur Barnes International Moscow. Aus ihren Analysen, die sie dieser Tage russischen Medien zukommen ließ, geht hervor, dass Russlands Reiche ihr Investitionsportfolio vermehrt diversifizieren. Und zwar zuungunsten ausländischer Immobilien. Stattdessen griffen sie auffällig stark zu Bildern und Diamanten. Den Angaben von Barnes zufolge stieg die Nachfrage nach Kunstgegenständen in der Zeit von Januar bis August 2021 um sage und schreibe 40% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die auf dem Markt erhältlichen Bilder von Künstlern wie Monet, Schischkin oder Levitan seien praktisch alle aufgekauft worden. Die Nachfrage nach Diamanten sei um 20% gestiegen, wobei die durchschnittliche Kaufsumme 300000 Euro betragen habe. An Popularität gewonnen hätten auch Weinkollektionen. Gewiss, im Vergleich zu Immobilien und Aktien sei das Volumen immer noch gering. Aber der Trend werde im vierten Quartal anhalten.
Wenig Wunder, könnte man sagen: Seit eineinhalb Jahren dürfen Russen nur mehr unter Einhaltung einer zweiwöchigen Quarantäne in die Europäische Union einreisen – es sei denn, sie sind mit einem der von der WHO anerkannten Impfstoffe geimpft. Und nun haben auch die USA vor, die Grenzen für Menschen, die nicht oder mit einem nicht anerkannten Impfstoff wie Sputnik V geimpft sind, dichtzumachen. Was soll man da mit einer weiteren Wohnung im Westen? Besser, sich derweil wenigstens in Russland so schön und luxuriös auszustatten wie eben möglich.
(Börsen-Zeitung,