LeitartikelBritische Konjunktur

Labours Insel der Seligen

Großbritannien wirkt wie eine Insel der Stabilität, wenn man auf Deutschland und Frankreich blickt. Das zahlt sich aus.

Labours Insel der Seligen

Britische Konjunktur

Insel der Seligen

von Andreas Hippin

Großbritannien wirkt wie eine Insel der Stabilität, wenn man auf Deutschland und Frankreich blickt. Das zahlt sich aus.

Zu den bemerkenswerten Begleitumständen des Wahlsiegs von Labour im Juli gehört, dass er von keinerlei Euphorie begleitet war. Wie sich zeigte, muss das kein Nachteil sein. Die fehlende Überschwänglichkeit ermöglichte der neuen Regierung, auf Schönfärberei weitgehend zu verzichten. Sie nahm nach einer ernüchternden Bestandsaufnahme in den ersten vier Monaten vieles in Angriff, was man nicht von ihr erwartet hätte. Das war zwar mit Steuererhöhungen verbunden.

Doch wer dachte, dass Labour das Füllhorn über all jenen ausschütten würde, die staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, wurde schnell eines Besseren belehrt. Den Anfang machte die Streichung des jährlichen Heizkostenzuschusses für Rentner, die nicht zu den Bedürftigen gehören.

Künftig entscheidet Bedürftigkeit

Zuvor wurden Sozialleistungen für ältere Mitbürger mit der Gießkanne verteilt. Angesichts der rasanten Alterung der Bevölkerung war es an der Zeit, einmal darüber nachzudenken, sich dabei stärker am Vermögen der Empfänger zu orientieren.

Rund sechs Millionen Menschen leben von Sozialhilfe, sind arbeitsunfähig oder bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Hilfe von anderen Transferzahlungen. Ihre Zahl ist seit Ausbruch der Pandemie rasant gestiegen. Nun will Premierminister Keir Starmer möglichst viele zurück an den Arbeitsmarkt bringen, auch solche, die aus gesundheitlichen Gründen wirtschaftlich inaktiv sind.

Mehr Rechte für Arbeitnehmer

Als die Tories entsprechende Vorschläge brachten, wurde ihnen von der Opposition noch Herzlosigkeit vorgeworfen. Doch der neuen Regierung wurde schnell klar, dass die bestehende Situation nicht aufrechtzuerhalten ist. Zugleich erhalten Arbeitnehmer mehr Rechte, allerdings nicht in dem Maße, das man in Deutschland für selbstverständlich hält.

Labour macht auch sonst vieles richtig. Bildungsministerin Bridget Philipson erlaubt den Universitäten, die seit Jahren eingefrorene Obergrenze für die Studiengebühren zu erhöhen. Alles andere hätte zu einer Verschlechterung der Lehre geführt. Sozialmieten dürfen steigen. Sonst hätte auch weiterhin niemand in den Bau von Sozialwohnungen investiert.

Politische Stabilität

Alles in allem schreckte die neue Regierung nicht davor zurück, auch der eigenen Klientel Opfer abzuverlangen. Sie legte damit die Grundlage dafür, das polarisierte Land wieder zusammenzuführen. Im Vergleich zu Deutschland und Frankreich erfreut sich das Land großer politischer Stabilität.

Das Wachstum dürfte in den kommenden Jahren vor allem vom öffentlichen Sektor getragen werden, sowohl durch seine Investitionen als auch durch höhere Einkommen für die Mitarbeiter des öffentlichen Diensts. Entscheidend ist, dass Volkswirte dem Land Wachstum zutrauen, wenn auch nicht in dem von Labour erhofften Maß.

Keine Angst vor Donald Trump

Donald Trumps Zölle braucht man in Großbritannien nicht zu fürchten. Das Land hat seit dem Niedergang der heimischen Stahlindustrie keine industrielle Basis mehr. Vor allem in Deutschland fühlte man sich mit Blick auf die eigene Industrie lange überlegen.

Dort merkt man langsam, dass man in den vergangenen Jahrzehnten auf die falschen Pferde gesetzt hat. Dabei wurden viele Chancen verschenkt, etwa bei der Halbleiterentwicklung oder in der Biotechnologie. Nun stehen deutsche Maschinenbauer und Autohersteller im direkten Wettbewerb mit chinesischen Unternehmen. Der Anpassungsprozess wird schmerzhaft.

Flexiblere Herangehensweise

Großbritannien verabschiedete sich vergleichsweise früh von Kohle und Stahl. Der EU-Austritt brachte viele Unternehmen dazu, alles auf den Prüfstand zu stellen. Die Pandemie zwang erneut zum Umdenken. Das führte zu einer insgesamt flexibleren unbürokratischen Herangehensweise, die sich heute auszahlt. Die Probleme Deutschlands und Frankreichs sieht man in der Londoner City nicht mit Häme, sondern mit großer Sorge. Zugleich schwindet das Interesse einer Annäherung an die EU um jeden Preis.

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