Lernen, glauben und verstehen
Was es denn in Moskau so Neues gebe, fragte ich dieser Tage aus dem Urlaub einmal telefonisch bei meinen Bekannten in der russischen Hauptstadt nach. Die Temperaturen seien extrem stark gefallen, wurde mir erklärt – und zwar um die Hälfte auf 13 Grad. Damit aber nicht genug: Das Ereignis sei just am 1. September eingetreten.
Na, Donnerwetter! Jetzt hält sich schon die Natur an die russische Einteilung des Jahres. Diese geht ja nicht von den meteorologischen Vorgaben aus, sondern nach dem zur Tradition gewordenen Konzept, dass der Winter am 1. Dezember, das Frühjahr am 1. März, der Sommer am 1. Juni und der Herbst eben am 1. September beginnt. Und damit die Welt eine Ordnung hat, beginnt auch das Schuljahr nach drei (!) Monaten Ferien genau am 1. September – unabhängig davon, ob das ein Montag oder vielleicht auch ein Donnerstag oder Freitag ist. Manche Familie nimmt das freilich gelassen zur Kenntnis. Sollte sich aus irgendeinem Grund eine Urlaubsreise gerade im September anbieten, bringt man das Kind eben erst Anfang Oktober in die Schule. Gewiss, über Distance Learning hält man es auf dem Laufenden.
Im Übrigen greift abgesehen von diesem lockeren Umgang das Homeschooling in Russland generell um sich. Und zwar gar nicht so sehr aufgrund der Corona-Pandemie, wie das derzeit in vielen europäischen Ländern der Fall ist. Sondern aufgrund des Misstrauens in die staatlichen Erziehungsmethoden, die ja unter Wladimir Putin gerade auch in der Interpretation des Unterrichtsstoffes wieder ideologisch angereichert und einseitiger geworden sind und dort wie da an die Sowjetunion erinnern. Reproduktion des Vorgekauten gilt mehr als selbständiges Denken und Hinterfragen. Das Marktangebot, wie der Unterricht fern der öffentlichen Schulen gestaltet werden kann, ist inzwischen vielfältig. Manche nutzen es wenigstens teilweise und besuchen die Schule nur an einzelnen Tagen. Schätzungen besagen, dass insgesamt an die 200000 Schüler gänzlich von zu Hause aus lernen. Apropos selbständiges Denken: Dieser Tage hat sich ein Schüler in einer Gesprächsrunde mit Putin dazu verstiegen, den Staatspräsidenten, der sich in seinem Statement in den Fakten der russischen Geschichte geirrt hatte, auf diesen Irrtum hinzuweisen. Fast ist daraus eine Staatsaffäre entstanden, denn die Direktorin der Schule rügte den Jungen für eine „gewisse Dreistigkeit“. Am Ende feierte die Opposition ihn aber für seinen Mut. Und so sah sich schließlich sogar Putins Sprecher gezwungen, den Jungen zu loben und die Hoffnung zu äußern, dass dieser an der Schule nicht weiter Ärger bekomme.
Tja, man könne Russland nicht verstehen, meinte der große Dichter Fjodor Tjuttschew schon im 19. Jahrhundert. Das Land sei von so besonderer Art, dass man an dieses nur glauben kann. Das stimmt so natürlich auch wieder nicht, wie der weltberühmte Schriftsteller Vladimir Nabokov, Autor des Erfolgs- und Skandalromans „Lolita“, in seinen Memoiren, die mir dieser Tage in die Hände fielen, schreibt. Dort erzählt er, wie er nach der Flucht aus Russland vor etwa 100 Jahren den schlecht informierten westlichen Intellektuellen – meist vergeblich – Russland und seine Geschichte zu erklären versuchte. Diese, schreibt er, könne unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden: „(…) einmal als die Evolution der Polizei (eine sonderbar unpersönliche und abseits stehende Macht, die manchmal in einer Art Vakuum arbeitet, manchmal hilflos ist und dann wieder die Regierung in brutalen Verfolgungen übertrifft); und zweitens als die Entwicklung einer bewunderungswürdigen Kultur.“ Und Nabokov, der später in den USA lebte, legt auch dar, um wie viel besser und risikoärmer ein freiheitsliebender Russe unter den letzten Zaren gelebt habe als unter den Sowjets.
Nabokovs Vater war übrigens einer der frühen Liberalen im Land, kämpfte gegen den Antisemitismus und die Todesstrafe, lehnte sich als Gegner des Zarentums weit aus dem Fenster und warnte 1917 als Mitglied der Provisorischen Regierung vor „Anarchie und Terror“ der Bolschewiken, die dann die Sowjetunion gründeten. 1922 wurde er in Berlin von einem monarchistischen Exilrussen erschossen, obwohl nicht er Ziel des Angriffs gewesen war. Der Attentäter wurde später Mitglied der NSDAP. Nabokov ist in Berlin-Tegel begraben.