Logistik-Chaos zwischen Russland und dem Westen
Wenn sich ein Nobelpreisträger, der einerseits seine goldene Medaille zugunsten von ukrainischen Flüchtlingen versteigern lässt, nun andererseits hauptsächlich um die medizinische Versorgung der Russen kümmert, dann beweist das nicht nur die Komplexität des Krieges, der auf allen Seiten fast nur Verlierer hervorbringt. Es beweist auch, dass im westlichen Sanktionseifer, der stark von der ukrainischen Regierung diktiert wird, auch unerwünschte Nebenwirkungen in Kauf genommen werden.
Medikamente teuer
Dmitri Muratow, Friedensnobelpreisträger 2021 und einer der mutigsten russischen Investigativjournalisten, hat jüngst kundgetan, dass er sich nun vorwiegend damit beschäftigt, seinen schwerkranken russischen Landsleuten beim Überleben zu helfen. Seiner journalistischen Arbeit kann er ohnehin nicht mehr nachgehen. Und so arbeitet er nun in Eigenregie daran, dass Knochenmark für Transplantationen und jene 70 Medikamente, die er als absolut überlebenswichtig aufgelistet hat und die nur der Westen liefern kann, auch rechtzeitig in Russland ankommen. Das Problem nämlich, so Muratow, sei, dass die Logistik nicht mehr richtig funktioniere.
In der Tat ist diese durch Krieg und Sanktionen völlig durcheinandergekommen. Und zwar eben auch bei jenen Produkten, die keinen Sanktionen unterliegen. „Der Flugverkehr ist zerstört, der Autoverkehr mit Europa erschwert, weshalb man verschiedene Umgehungswege suchen muss. Das verteuert die Medikamentenlieferung deutlich“, betonte am Montag auch Wladimir Kruglyj, Mitglied des sozialpolitischen Ausschusses im russischen Föderationsrat.
Was für den Pharmasektor gilt, gilt letztlich für alle Waren, die noch zwischen dem Westen und Russland ausgetauscht werden. Die Verbindungslinien, die über Jahrzehnte entwickelt worden sind, wurden seit Kriegsbeginn Ende Februar im Nu getrennt. Gleich zu Beginn verfügte die EU ein Landeverbot für russische Flugzeuge, das Moskau mit einer reziproken Maßnahme quittierte. Alsbald verweigerten große europäische Seehäfen wie Rotterdam oder Hamburg russische Warencontainer. Der dänische Logistiker Mærsk und die großen Zusteller DHL, UPS und Fedex stoppten ihre Lieferungen gleich Anfang März.
Und nachdem Russland ukrainische Handelswege im Schwarzen Meer blockierte, holte die EU vor zwei Wochen zum Schlag gegen den verbliebenen Straßenverkehr aus: Im sogenannten fünften Sanktionspaket wurden nicht nur die europäischen Häfen für Schiffe unter russischer Flagge gesperrt. Es wurde auch die EU-Außengrenze für Lkw mit russischen und weißrussischen Kennzeichen dichtgemacht. Russland selbst hat sich hier bislang nicht mit reziproken Maßnahmen gerächt. Dafür Belarus.
Praktikable Lösungen
Nicht überall ist die unterbrochene Logistik gleich eine Katastrophe. Für grenzüberschreitende Online-Bestellungen etwa ging die Brisanz verloren, weil die Russen durch den Rückzug der Zahlsysteme Visa und Mastercard ohnehin nicht mehr im Westen bestellen können.
In manchen Bereichen findet man auch recht unkompliziert Lösungen: So hat Ungarn kürzlich vermeldet, dass es den – nicht verbotenen – Import von russischem Nuklear-Brennstoff für ungarische Atomkraftwerke kriegsbedingt nicht mehr mit Eisenbahn durch die Ukraine, sondern mit Frachtflugzeugen über Belarus, Polen und Slowakei abgewickelt hat.
Dramatisch ist hingegen die Situation für die russische Industrie: Sie steht nicht nur vor einer epochalen Strukturveränderung. Sie muss schon jetzt für Zulieferungen aus dem Ausland tief in die Tasche greifen. Habe früher eine Containerlieferung aus dem südkoreanischen Hafen von Pusan bis in die russische Exklave Kaliningrad an der Ostsee 4450 Dollar gekostet, so habe sich der Preis jetzt auf zwischen 20000 und 25000 Dollar fast verfünffacht, sagte Wladimir Schtscherbakow dieser Tage im Interview mit dem russischen Forbes-Magazin. Schtscherbakow ist einer der Pioniere der postsowjetischen Autofertigung.
In seinem 1994 gegründeten Unternehmen Avtotor in Kaliningrad zog er die lokale Endfertigung für Hyundai, Kia und BMW hoch. Im vergangenen Jahr liefen 177000 Autos von den Bändern. Inzwischen ist die Tagesproduktion auf ein Drittel geschrumpft. Nach Kriegsbeginn hat BMW die Produktion bei Avtotor gestoppt. Inzwischen hätten auch bei der Lieferung von Bestandteilen aus Südkorea Probleme begonnen, so Schtscherbakow.
Importabhängiges Russland
Nach über 30 Jahren Integration in die Weltwirtschaft ist Russlands Industrie mindestens so sehr vom Import abhängig wie der Westen von russischen Rohstoffen wie Gas, Kohle oder Öl. In einer ganzen Reihe von kritischen Industriezweigen übersteigt der Anteil ausländischer Wertschöpfung 50% , zeigt die renommierte Moskauer Higher School of Economics (HSE) in einer Studie. Damit nicht genug, kommt die Hälfte des jeweiligen Anteils an ausländischer Wertschöpfung aus EU-Ländern und Nordamerika, die den Großteil der Sanktionen verhängt haben. Die zweite Hälfte weitgehend aus China.
Das Problem sei nicht nur, dass die ausbleibenden europäischen und amerikanischen Waren nicht so leicht ersetzt werden können, wie die HSE-Studienautoren erklären. Das Problem sei auch, dass aufgrund der westlichen Sanktionen auch die Logistik mit China gestört sei, wie Grigorij Grigorjew, Chef des russischen Logistikunternehmens Novelco, neulich in einer Analyse darlegte: Etwa 80% des chinesischen Exports würden über den Seeweg abgewickelt und 60% davon über europäische Häfen. Das fünfte EU-Sanktionspaket mache diese Route nach Russland nun uninteressant. Immerhin könne man auf drei Eisenbahnrouten aus dem Reich der Mitte zurückgreifen.
Die Verbindung zu China ist das eine. Um aber das Problem des Transports zwischen Europa nach Russland zu lösen, braucht es mehr Kreativität. Grosso modo haben sich zwei Modelle herauskristallisiert. Das erste, das für die Lieferung nicht sanktionierter Waren in Frage kommt, ist der Transit über Länder wie Armenien oder Kasachstan. Um aber auch sanktionierte westliche Waren nach Russland zu bringen, würden diese in Länder wie Türkei, Kasachstan oder die Vereinigten Arabischen Emirate gebracht, von wo einheimische Distributoren sie als ihre eigene Ware nach Russland reexportieren, erklären Experten. Für die involvierten Unternehmen ist dieser Weg freilich juristisch riskant.
Russland kümmert das wenig. Und so hat Premierminister Michail Mischustin am 30. März eine Verfügung unterzeichnet, mit der er den grauen, parallelen Import sanktionierter Waren de facto legalisiert.