Machtkampf um Nord Stream
Russlands Rolle als zuverlässiger Gaslieferant für Europa kommt auf den Prüfstand. Das wird auch die umkämpfte Entscheidung über die Inbetriebnahme der 10 Mrd. Euro teuren und vom Staatskonzern Gazprom gerade fertiggebauten Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 beeinflussen – ein Projekt, an dessen Finanzierung die fünf westlichen Konzerne Uniper und Wintershall aus Deutschland sowie Shell, Engie und OMV mit jeweils rund 1 Mrd. Euro beteiligt sind. Die Rekordpreise in Großbritannien, die schon bald mit Pleiten einiger Gasversorger verbunden sein werden, und die zeitweilige Verdoppelung des Preises für Gas am Spotmarkt zur sofortigen Lieferung in ganz Westeuropa seit Jahresbeginn haben die Aufmerksamkeit auf die geringeren Erdgaslieferungen aus Russland in diesem Sommer gelenkt, so dass sich viele Akteure fragen, ob Moskau den Markt mit Absicht in aller Stille unter Druck setzt.
Das wäre ein ungeheurer Vorgang. Schließlich hat Russland selbst in den Jahrzehnten des Kalten Krieges, als sich die Panzer am Eisernen Vorhang drohend gegenüberstanden, stets zuverlässig die vereinbarten Gasmengen geliefert. Ein unerklärliches Wunder war das nicht: Ebenso abhängig wie die Westeuropäer von dem Gas aus Russland sind, das mehr als ein Drittel des Gasbedarfs für die Heizungen im Winter und die Stromerzeugung deckt, wird das westliche Geld in Russland zur Deckung des Moskauer Staatshaushalts benötigt.
Was in diesem Winter aller Voraussicht nach bevorsteht, ist ein Machtkampf um Nord Stream 2. Moskaus Ziel ist es, so lautet zumindest der Verdacht, die Preise so weit in die Höhe zu treiben, dass Deutschland die Genehmigung der politisch umstrittenen zweiten Ostsee-Pipeline, deren inzwischen abgeschlossener Bau durch US-Sanktionen und den Widerstand osteuropäischer Länder wie Polen und der Ukraine jahrelang behindert wurde, nun zügig erteilt. Wenn tatsächlich dieses Kalkül dahintersteckt und aufgeht, dann beweist es, wie müßig die Diskussion über eine wachsende Abhängigkeit von russischem Gas war. Eine große Abhängigkeit besteht längst. Ob sie sich vergrößert, hängt nicht von einer zusätzlichen Pipeline ab, sondern davon, ob Gas als Energieträger in der Stromerzeugung schnell durch Windräder und Solaranlagen abgelöst werden kann.
Kurzfristig unverändert bleibt dies: Annähernd jeder zweite Haushalt in Deutschland beheizt seine Wohnung mit Gas. Das könnte diesen Winter deutlich teurer werden. Laut dem Vergleichsportal Verivox haben 32 regionale Gasanbieter für September und Oktober Preiserhöhungen von durchschnittlich 12,6% angekündigt. Beim Beheizen eines Einfamilienhauses führe das zu Mehrkosten von 188 Euro im Jahr. Ohne Zweifel ist Gas also binnen der vergangenen eineinhalb Jahre ein knappes Gut geworden. Im Frühjahr 2020, nach Beginn der Corona-Pandemie, waren die Gaspreise im Keller, Haushalte konnten sich über sinkende Kosten freuen. Doch seit dem vergangenen Winter hat sich das geändert.
Vor wenigen Tagen forderten 40 Mitglieder des Europäischen Parlaments, vor allem aus Polen und dem Baltikum, eine Untersuchung gegen Gazprom als Monopol-Pipeline-Exporteur. Sie wollen herausfinden, ob die Maßnahmen von Gazprom für den Preisanstieg verantwortlich sind, der nun eine Gefahr für die europäische Industrie und die Verbraucher wird. Gazprom selbst und die Fürsprecher des Staatskonzerns weisen das als „übertrieben“ zurück. Sie pochen darauf, dass Gazprom alle langfristigen Lieferverträge erfüllt hat. Es wurde kein Gashahn zugedreht. Einige Länder in Europa, darunter auch Deutschland, haben 2021 sogar umfangreichere Lieferungen erhalten als 2020. Allerdings hat Gazprom die eigenen leeren Speicher im Westen bewusst nicht aufgefüllt. Es steckten Ressentiments gegen Russland dahinter, sagen die Verteidiger, wenn Gazprom für etwas verantwortlich gemacht werde, das sich zu einem weltweiten Problem entwickelt, da die Gaspreise auch in Asien in die Höhe schnellen, da immer mehr Länder versuchen, zumindest einen Teil der Kohle in ihrem Strommix durch saubereres Erdgas zu ersetzen. Tatsächlich können mit Flüssiggas beladene Tanker aus Katar schnell die Richtung ändern und dorthin fahren, wo der höchste Preis bezahlt wird – nach Asien. Zudem ist die einheimische Gasförderung in Europa aus der Nordsee stark zurückgegangen. Um den Preisanstieg zu erklären, braucht es keine Theorie über dunkle Moskauer Absichten. Aber die Situation spielt Gazprom beim Ringen um den Betriebsstart von Nord Stream 2 in die Hände.