Im BlickfeldNeutraler Zins

Heikler Kompass für die Geldpolitik

Kaum ein Thema ist unter Notenbankern derzeit so präsent wie der neutrale Zins. Das Konzept hat jedoch seine Tücken und kann deshalb zu falschen Schlüssen führen.

Heikler Kompass für die Geldpolitik

Heikler Kompass
für die Geldpolitik

Kaum ein Thema ist unter Notenbankern derzeit so präsent wie der neutrale Zins. Das Konzept hat jedoch seine Tücken und kann deshalb zu falschen Schlüssen führen.

Von Martin Pirkl, Frankfurt

Es passiert nicht oft, dass Finanzmarktteilnehmer gespannt auf die Veröffentlichung eines EZB-Aufsatzes warten. Anfang Februar war dies der Fall. Schließlich erhofften sich manche Anleger von dem Papier über den neutralen Zins Hinweise darauf, wie viele Zinssenkungen der EZB noch anstehen könnten.

Der neutrale Zins ist definiert als jener Zinssatz, der mit einem ausgelasteten Produktionspotenzial und einer konstanten Inflationsrate vereinbar ist. Sprich: Liegt der Leitzins einer Notenbank darüber, dann wirkt die Geldpolitik restriktiv, da sie das Wirtschaftswachstum und die Inflation dämpft. Befindet sich der Zins unter diesem neutralen Niveau, schiebt die Geldpolitik die Konjunktur und die Teuerung an und wirkt damit expansiv. Das Problem: Der neutrale Zins lässt sich nicht messen, sondern nur schätzen. Und die Schätzungen schwanken je nach Methode erheblich.

Meinungsunterschiede in der EZB

„Seit Dezember verfolgt die Europäische Zentralbank nicht mehr das Ziel einer ausreichend restriktiven Geldpolitik“, sagt Konstantin Veit, Portfoliomanager bei Pimco. „Dadurch hat die Debatte innerhalb des EZB-Rats über die Gestaltung eines geeigneten neutralen Leitzinses an Dynamik gewonnen – und es sind Meinungsunterschiede entstanden.“

EZB-Direktorin Isabel Schnabel gehört zu denjenigen, die unsicher sind, ob die aktuelle Geldpolitik im Euroraum überhaupt noch restriktiv wirkt. Der derzeitige Einlagensatz von 2,5% könnte ihrer Einschätzung nach also womöglich schon neutral sein. Auf der anderen Seiten gibt es Notenbanker – sowohl aus dem Lager der Tauben wie dem der Falken – die den nominalen neutralen Zins eher bei 2% sehen. Portugals Notenbankchef Mário Centeno verortet ihn sogar bei 1,5 bis 2%.

Keine Klarheit durch EZB-Papier

In dieser Gemengelage erhofften sich manche Finanzmarktteilnehmer mehr Klarheit durch den EZB-Aufsatz. In diesem stellten Ökonomen der Notenbank ihre neuste Schätzung des neutralen Zinses vor. Das Ergebnis: Der nominale Satz könnte zwischen 1,75 und 2,25% liegen. Der reale Zins, also abzüglich des Inflationsziels von 2% läge damit bei −0,25 bis 0,25%. Im Vergleich zu der Einschätzung der EZB vor einem Jahr ist die Schätzung damit etwas niedriger. Ein Signal dafür, dass die Notenbank nun mehr Spielraum für Zinssenkungen sieht, ist dies jedoch nicht unbedingt.

„Für diejenigen, die auf wirkliche Klarheit über die nächsten Schritte der EZB gehofft hatten, wird das lang erwartete Arbeitspapier eine Enttäuschung gewesen sein“, meint ING-Chefökonom Carsten Brzeski. Die Studienautoren verweisen auf die hohe Unsicherheit bei den Schätzungen. Je nach Modell liegt der nominale neutrale Zins bei 1,5 bis 3%. Zum anderen handelt es ich bei dem Papier um die Sichtweise der Autoren. Die einzelnen EZB-Ratsmitglieder, die über die Höhe der Leitzinsen entscheiden, müssen dem nicht folgen und können ganz andere Einschätzungen haben.

Zu präsent in Reden

Zudem bleibt die Frage: Wie nützlich ist das Konzept des neutralen Zinses überhaupt für die Steuerung der Geldpolitik? In den Reden vieler EZB-Ratsmitglieder ist das Thema derzeit allgegenwärtig – nach dem Geschmack mancher Notenbanker sogar zu präsent. Dadurch ist bei manchen Beobachtern der Eindruck entstanden, die Einschätzungen zum neutralen Zins würden maßgeblich beeinflussen, wie stark die EZB den Einlagensatz in diesem Jahr noch senkt. Dabei ist das Konzept für die Notenbanker eher interessant, um einzuschätzen, wie hoch der Leitzins mittel- bis langfristig sein könnte.

„EZB-Chefvolkswirt Philip Lane weist denn explizit darauf hin, dass das Konzept des neutralen Leitzinses zwar in den Jahren 2023/2024 sehr nützlich war, als die Inflation das Ziel der EZB klar übertroffen hat. Damals war es wichtig zu signalisieren, dass die EZB restriktiv agiert“, sagt Daniel Hartmann, Chefökonom von Bantleon. „Mit der Annäherung der Teuerungsrate an das Inflationsziel verliert das Konzept laut Lane aber an Relevanz. Man müsse sich jetzt mehr auf die Gesamtheit der Wirtschaftsdaten konzentrieren.“

Mehrere Regeln

Volker Wieland, Geschäftsführender Direktor des Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) an der Goethe-Universität Frankfurt, hält es für wichtig, verschiedene volkswirtschaftliche Konzepte zu betrachten. „Bei der Steuerung der Geldpolitik ist es sinnvoll, sich mehrere Regeln anzuschauen, wie beispielsweise die Taylor-Regel oder die Orphanides-Wieland-Regel“, sagt der Organisator der jährlich stattfindenden Konferenz „The ECB and its Watchers.“

Die Taylor-Regel setzt den kurzfristigen Zinssatz in Abhängigkeit von der laufenden Konjunktur- und Inflationsentwicklung. „Wenn ich die Taylor-Regel anwende, komme ich aktuell zu dem Schluss, dass die Geldpolitik der EZB nicht mehr besonders restriktiv ist“, sagt Wieland. Doch auch bei diesem Konzept muss der reale Gleichgewichtszins geschätzt werden.

Finanzierungskonditionen im Blick

Um den Instrumentenkasten der Notenbank zu erweitern, haben Wieland und der ehemalige zypriotische Notenbankchef Athanasios Orphanides die Orphanides-Wieland-Regel (OW-Regel) entworfen. Dieses Konzept gibt eine Empfehlung für ei­ne Zinsänderung ausgehend vom bestehenden Niveau. Dadurch entfällt die Schätzung des realen Gleichgewichtszinses. Aber: Sie kann keine Empfehlung unabhängig vom vorliegenden Zinsniveau geben. „Die ergebnisbasierten Versionen der OW-Regel, die den BIP-Deflator und die Kerninflation verwenden, forderten eine straffere Geldpolitik lange vor der Straffung durch die EZB“, sagt Wieland mit Blick auf die Jahre Anfang dieses Jahrzehnts.

Ingo Mainert, CIO Multi Asset Europe von Allianz Global Investors, verweist auf die Finanzierungskonditionen an den Finanzmärkten. Neben den volkswirtschaftlichen Konzepten lasse sich auch daraus ableiten, wie die Geldpolitik wirke. „Wenn ich mir die Finanzierungskonditionen anschaue, dann zeigt mir dies, dass die Geldpolitik bereits aus dem restriktiven Bereich rausgelaufen ist“, sagt Mainert.

Drei Ansätze zur Schätzung

Zum Konzept des neutralen Zinses meint er: „Es ist wenig sinnvoll für die Feinsteuerung der Geldpolitik, wenn überhaupt nur nützlich für die grobe Identifizierung von langfristigen Trends.“ Doch weshalb schwanken die Schätzungen des neutralen Zinses so stark? „Generell werden drei Ansätze zur Schätzung verwendet“, sagt Alessandro Tentori, CIO Europe bei Axa Investment Managers. Zur ersten Kategorie zählt er rein statistische Modelle, die als Ergebnis den langfristigen realen Zinssatz für eine beliebige Wirtschaft liefern, ohne jedoch auf die strukturellen Beziehungen zwischen den Variablen näher einzugehen. „Diese Modellklasse ist besonders flexibel und eignet sich speziell dafür, Perioden mit signifikanten Strukturbrüchen zu beschreiben, wie etwa die Zeit der Corona-Krise.“

Die zweite Kategorie sind strukturelle Modelle, die sich im Rahmen eines theoretischen Konstrukts bewegen dürfen. „Dabei wird der Gleichgewichtszins als jener Zinssatz geschätzt, der sowohl mit dem Potenzialoutput als auch mit dem Produktivitätstrend konsistent ist“, sagt Tentori. Problematisch ist, dass diese Faktoren geschätzt werden müssen. „Die Schwierigkeit liegt darin, dass das Wachstumspotential ebenfalls nicht präzise messbar ist“, sagt Mainert.

Neutraler Zins höher als vor Corona

„Als dritte Klasse zur Schätzung des neutralen Zinses sollten wir sogenannte agnostische Modelle nicht vergessen“, führt Tentori aus. Hierbei werden alle relevanten Variablen ausschließlich aus Marktdaten entnommen. „Diese Modelle haben den Vorteil, real time zu sein, sind aber gleichzeitig auch volatiler als andere Modelle.“

Bei all der Unsicherheit um die Höhe des neutralen Zinses, gibt es jedoch auch Aspekte, bei denen Konsens herrscht. Der Gleichgewichtszins dürfte höher liegen als in der Zeit vor der Corona-Pandemie. Ein höherer Investitionsbedarf, etwa in Militär oder die grüne Transformation der Wirtschaft, führt zu einem Aufwärtstrend beim neutralen Zins; eine allgemein steigende Staatsverschuldung ebenfalls. „Als weiteren Punkt würde ich die technologische Revolution nennen“, sagt Tentori. „Generative KI wird in Zukunft höhere Produktivität erzeugen und ein höheres Potenzialwachstum erlauben. Damit einhergehend ist auch ein höheres langfristiges Realzinsniveau tragbar.“

Vorerst keine Nullzinsen

Diese ganzen Effekte dürften diejenigen überwiegen, die das Niveau des neutralen Zinses senken. Dazu zählt etwas der hohe Anteil an Rentnern in Europa und die niedrige Geburtenrate. Aus dem Konsens des in den vergangenen Jahren gestiegenen neutralen Zinses lässt sich auch ein ganz konkreter Schluss ableiten. Eine Phase mit Nullzinsen wird in der Eurozone so schnell nicht wieder kommen.

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