Nippons Wirtschaft bleibt ein Sonderfall
Konjunktur
Nippons Wirtschaft bleibt ein Sonderfall
Von Martin Fritz
Es gibt vier Arten von Volkswirtschaften: unterentwickelte, entwickelte, Argentinien und Japan.“ Das schrieb der Ökonom Simon Kuznets vor etwa 60 Jahren, um Japans einzigartige Leistung hervorzuheben, sich binnen eines Jahrhunderts von einer agrarisch geprägten Feudalgesellschaft ohne natürliche Ressourcen zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt entwickelt zu haben.
Was der Wirtschaftsnobelpreisträger nicht mehr erlebte (Kuznets starb 1985): Nippon blieb auf andere Weise bis heute ein wirtschaftlicher Sonderfall. In den 1980er Jahren entstand dort die größte Spekulationsblase aller Zeiten, ihr Platzen mündete in die weltgrößte Vernichtung von Vermögenswerten. Dann folgten drei Jahrzehnte mit stagnierenden Preisen und Löhnen, dauerhaftem Nullzins und lauter geldpolitischen Experimenten. Diese lange Durststrecke ist vorerst beendet. Seit zwei Jahren bewegen sich Löhne und Preise nach oben, die Bank of Japan erhöhte im März nach 17 Jahren erstmals den Leitzins, ein zweiter Schritt könnte bald folgen. Die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen übersprang erstmals seit elf Jahren die 1-Prozent-Schwelle. Doch diese Trends bedeuten nicht, dass Japan schon bald eine „normale“ Volkswirtschaft wird.
Aufgeblähte Notenbank-Bilanz
Erstens steht die Bestätigung aus, dass Preise und Löhne auch künftig steigen. Nach zwei Jahren fallender Reallöhne nehmen sich die Erwerbstätigen zwar gerade den kräftigsten Schluck aus der Lohnpulle seit über 30 Jahren. Aber die Preisdynamik wird schon in der zweiten Jahreshälfte nachlassen. Zweitens steht die Normalisierung der Geldpolitik noch ziemlich am Anfang. Die Bank of Japan besitzt 56% aller Staatsanleihen und hält Aktien im Wert von 18% der Topix-Marktkapitalisierung. Keine andere Notenbank hat ihre Bilanz so aufgebläht. Von einer Zinswende kann keine Rede sein. Der Chefökonom von Mitsubishi UFJ Morgan Stanley schätzt den aktuellen Realzins auf „ungefähr null“.
Auch das historische Tief des realen effektiven Yen-Wechselkurses sollte als Krisenindiz gewertet werden. In Dollar gerechnet ist Japans Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf den vierten Platz hinter Deutschland gefallen. Von normalem Wachstum keine Spur: Das BIP im ersten Quartal war (in Yen) nicht höher als vor sechs Jahren. Die privaten Ausgaben lagen um 3% und die Firmeninvestitionen um 1% unter dem Niveau von Anfang 2018. Die Exportmenge war nur 4% höher. Der Staat füllte die Lücke auf, er gab 8% mehr als damals aus, finanziert über neue Schulden bei einem Haushaltsdefizit von 5%.
Schrumpfende Erwerbsbevölkerung
Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, dass Japan dauerhaft ein volkswirtschaftlicher Sonderfall bleibt. Die Gründe sind demografischer Natur: In den nächsten 15 Jahren steigt der Anteil der über 65-Jährigen von aktuell 30% auf 35%. Die Bevölkerung schrumpft dieser Prognose zufolge bis 2040 um 10% auf 110 Millionen, die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 gar um 19% auf 60 Millionen. Als erste entwickelte Volkswirtschaft wird Japan solche rasanten Änderungen der Demografie durchmachen.
Gerechnet in Yen und pro Kopf ist Japans BIP im vergangenen Jahrzehnt zwar gewachsen, weil mehr Frauen und Rentner arbeiten gingen. Aber diese Reserven sind nun weitgehend ausgeschöpft. Japan müsste künftig die Arbeitsproduktivität deutlich erhöhen, um trotz fallender Zahl von Erwerbstätigen seinen Wohlstand zu erhalten. Bisher gibt es jedoch keine Anzeichen, dass die notwendigen Strukturreformen angepackt werden. Mehr Einwanderung etwa würde den Arbeitskräftemangel lindern. Aber in den fünf Jahren bis 2029 will die Regierung nur insgesamt 800.000 Arbeitsvisa ausstellen, während die Zahl der Japaner jährlich (!) um die gleiche Menge netto abnimmt.
Das vielleicht stärkste Alarmzeichen besteht darin, dass Japans Bürger und Unternehmen ihre Gelder verstärkt im Ausland anlegen, sei es durch die Übernahme von anderen Firmen, sei es durch Aktien- und Anleihekäufe. Nur ein Drittel der Auslandserträge wie Dividenden und Zinsen floss 2023 zurück nach Japan, die übrigen Drittel wurden im Ausland wieder angelegt. Offenbar glauben viele Japaner selbst nicht mehr an die Rückkehr „normaler“ Zeiten.
Das vielleicht stärkste Alarmzeichen besteht darin, dass Japans Bürger und Unternehmen ihre Gelder lieber im Ausland anlegen.