LeitartikelStrukturwandel

Thyssens Stahlsparte muss sich der Realität stellen

Jahrelang hat Thyssenkrupp Steel die Augen vor der Realität verschlossen. Das rächt sich nun in Gestalt massiven Arbeitsplatzabbaus.

Thyssens Stahlsparte muss sich der Realität stellen

THYSSENKRUPP

Angekommen in der Realität

Von Annette Becker

Strukturwandel lässt sich nicht wegdiskutieren. Wer sich nicht anpasst, verschwindet vom Markt.

Ob Bosch, Schaeffler, Volkswagen oder jetzt Thyssenkrupp Steel – allerorten greifen die Vorstände zum Äußersten und planen massive Stellenstreichungen. Dass der Industriestandort Deutschland taumelt, ist keineswegs neu. Doch wenn im Tagesrhythmus der Abbau von tausenden von Industriearbeitsplätzen angekündigt wird, müssen die Alarmglocken schrillen.

Natürlich ist jeder Fall anders gelagert, doch mindestens bei Volkswagen und Thyssenkrupp gibt es eine Gemeinsamkeit: Vorstände und Aufsichtsräte haben die Realität über Jahre verleugnet. Die eingebrockte Suppe müssen nun die Beschäftigten auslöffeln. Das ist bitter! Damit ist allerdings nicht gemeint, dass die Arbeitnehmervertreter und mit ihnen die mächtige IG Metall keine Mitschuld an der Misere tragen. Im Gegenteil: Auch Besitzstandswahrung hat verhindert, dass beizeiten gegengesteuert werden konnte.

Überkapazitäten

Die Stahlsparte von Thyssenkrupp liefert dafür das beste Beispiel. Jedweder Versuch, das Geschäft in eine zukunftsfähige Struktur zu überführen, wurde torpediert. Angefangen bei der 2018 (!) ausgeloteten Stahl-Fusion mit Tata Steel, die nur vordergründig an den Auflagen der EU-Kommission scheiterte, bis hin zu den Gesprächen mit Salzgitter über eine Partnerschaft auf Augenhöhe.

Dabei lag und liegt eines der Hauptprobleme seit Jahren auf der Hand. Der weltweite Stahlmarkt ist von Überkapazitäten gekennzeichnet und ohne massive Einschnitte in die Produktionskapazitäten wird es für manche Hersteller keine Zukunft geben. Klar ist, wer am ersten aus dem Markt fliegt: Produzenten ohne wettbewerbsfähige Kostenstrukturen.

Schmale Rendite

Die Analyse für die Stahlsparte von Thyssenkrupp fällt in dieser Hinsicht ernüchternd aus. Die Umsatzrendite bezogen auf das operative Ergebnis belief sich im Schnitt der vergangenen fünf Jahre auf schmale 0,4%. Zeitgleich wurden netto 900 Vollzeitstellen aufgebaut, obwohl die Kapazitäten seit Jahren nicht ausgelastet sind. Dabei hatten sich die Stahlkocher 2019 auf den sozialverträglichen Abbau von 3.000 Stellen im Zuge des damaligen Zukunftskonzepts verständigt.

Hohe Energiekosten

Das war noch bevor es mit der Corona-Pandemie und dem Energiepreisschock im Gefolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine richtig dicke kam. Dadurch gesellten sich zu der Vielzahl an hausgemachten Probleme auch noch fundamentale Veränderungen der Rahmenbedingungen. Allen voran die energieintensiven Branchen ächzen seither unter hohen Strompreisen, die nicht nur im weltweiten Vergleich, sondern auch innereuropäisch nicht wettbewerbsfähig sind.

In der Stahlsparte von Thyssenkrupp haben die Verantwortlichen jedoch die Augen vor der Realität verschlossen. Dass Jahr für Jahr Geld verbrannt wurde, spielte vermeintlich keine Rolle, hatte der Verkauf der Aufzugsparte doch 17 Mrd. Euro in die Konzernkasse gespült. Das Laissez-Faire der letzten Jahre rächt sich nun. Die Einschnitte in Belegschaft und Geschäfte fallen jetzt nämlich umso gewaltiger aus. Binnen der nächsten fünf Jahre soll der Personalstand um 40% gekappt werden. Parallel dazu ist die Kürzung der Produktionskapazitäten um gut ein Fünftel geplant.

Teurer Wasserstoff

Den Bau der ersten und mutmaßlich einzigen Direktreduktionsanlage zur Herstellung von „grünem“ Stahl plant der neue Stahlvorstand fortzusetzen. Zugleich wird jedoch schon an Konzepten gearbeitet, wie die Wertschöpfungskette künftig verkürzt werden kann. Auch das ist ein herber Schlag. Angesichts der wenig wettbewerbsfähigen Rahmenbedingungen in Deutschland für Grünstrom und grünen Wasserstoff ist die Überlegung jedoch nur folgerichtig.

Zweifelsohne enthält das vom Stahlvorstand vorgelegte Eckpunktepapier für den Weg in die Zukunft viele Härten, welche die Belegschaft und die Arbeitnehmervertreter zu Recht nicht einfach schlucken werden. Fakt ist aber auch, dass sich der Strukturwandel nicht wegdiskutieren, geschweige denn „wegdemonstrieren“ lässt. Denn: Wer sich nicht anpasst, verschwindet vom Markt.