Versicherer dringen auf Entlastung
Aufsichtsregeln
Versicherer dringen bei Solvency II auf Entlastung
Die Reform des Aufsichtsrahmens Solvency II muss jetzt noch konkret ausgestaltet werden. Die Versicherer befürchten, dass die Kommission zu strenge Vorgaben macht.
Von Thomas List, Frankfurt
141 Mrd. Euro für den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum und 31 Mrd. Euro allein für deutsche Versicherer – so hoch war 2022 nach Angaben der europäischen Versicherungsaufsicht EIOPA die Risikomarge über alle Sparten der Erstversicherung. Die Versicherer müssen nach Solvency II ihre versicherungstechnischen Verbindlichkeiten, also das, was sie den Kunden zukünftig zahlen müssen, als besten Schätzwert in den Passiva ihrer Bilanzen ausweisen. Diesem besten Schätzwert wird eine Risikomarge als zusätzlicher Puffer aufgeschlagen. Diese Risikomarge stellt die potenziellen Kosten der Übertragung von Versicherungsverpflichtungen auf einen Dritten dar, falls ein Versicherer ausfällt.
Die Versicherer kritisieren diese Risikomarge. Die Kennziffer ist aus ihrer Sicht zu hoch. Dies gelte vor allem für langfristige Investmentprodukte, bei denen die Risikomarge die Solvabilitätskapitalanforderung (oder Solvenzquote SCR) sogar übersteigen könne, heißt es in einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Positionspapier der Insurance Europe (IE), der Dachorganisation der nationalen Versicherungsverbände in Europa. Aber auch für Lebensversicherungsprodukte kann die Risikomarge im Durchschnitt 40% der SCR ausmachen, so die Zahlen des Dachverbands.
Deutliche Auswirkungen
Die aktuelle Risikomarge – also vor der jetzt beschlossenen Reform – verringert das für die Versicherer verfügbare Kapital um 141 Mrd. Euro, zeigt die Bilanzstatistik der EIOPA für 2022. Das hat nach Ansicht der Versicherer deutliche Auswirkungen auf die Risikotragfähigkeit, die Anlagestrategien, das Produktdesign und die Versicherungsbeiträge.
Auch sehen sich die europäischen Versicherer in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Denn eine solche Risikomarge gibt es entweder gar nicht, wie in den USA und Kanada, oder sie ist deutlich niedriger, wie in Japan und Großbritannien.
Belastung soll halbiert werden
Insurance Europe schlägt nun vor, die noch zu beschließenden Ausführungsbestimmungen, sogenannte delegierte Rechtsakte, so auszugestalten, dass sich die Belastung durch die Risikomarge auf 70 Mrd. Euro halbiert. Allerdings sieht schon die von EU-Kommission, Rat und Parlament erzielte Einigung auf die Reform eine deutliche Reduktion vor. Dabei geht es um den Kapitalkostensatz, der von 6% auf 4,75% gesenkt wurde.
Außerdem sieht die Einigung einen zusätzlichen Faktor bei der Berechnung der Risikomarge vor, den Lambda-Faktor. Die wird der delegierte Rechtsakt festlegen. Klar ist aber, dass er die Risikomarge dämpft. Die Versicherer hätten da gerne ein bisschen mehr, als die EU-Kommission bisher informell vorschlägt.
Vorsichtigere Einschätzung des GDV
Der deutsche Versicherungsverband GDV ist bei seiner Einschätzung vorsichtiger, wie stark sich die bereits beschlossenen oder noch zu beschließenden Änderungen auf die Risikomarge auswirken. Reduktion ja, Halbierung wohl nicht, laut die Einschätzung aus dem Branchenverband. Denn eine Senkung der Risikomarge bedeutet nicht unbedingt, dass im gleichen Ausmaß Kapital freigesetzt wird. In Deutschland gibt es latente Steuereffekte in der Solvenzbilanz, die die Auswirkungen der verringerten Risikomarge reduzieren.
Weitere zentrale Punkte von Solvency II sind die Extrapolationsmethode und die sogenannte Volatilitätsanpassung, die bei der Bewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen eine wichtige Rolle spielen.
Zinssätze vom Markt
Um versicherungstechnische Rückstellungen zu bewerten, müssen diese diskontiert werden. Da Solvency II ein marktwertbasiertes System ist, stammen die dafür verwendeten Zinssätze vom Finanzmarkt. Allerdings lassen sich für die teilweise viele Jahrzehnte laufenden Lebensversicherungsverträge kaum passende Langläufer finden. Daher müssen ab einer bestimmten Laufzeit die Zinsen mit einem mathematischen Verfahren ermittelt („extrapoliert“) werden.
Die reformierte Solvency-II-Richtlinie sieht ein neues Extrapolationsverfahren vor. Durch den Extrapolationsbeginn bei einer Laufzeit von 20 Jahren und einen Konvergenzparameter auf den langfristigen Gleichgewichtszins von 15% (Kommissionsvorschlag 10,975%) für den Euro sollen unnötige Volatilitäten im Solvency-II-Rahmenwerk und ein vermehrtes prozyklisches Verhalten der Versicherer verhindert werden. Außerdem erschwere es der Kommissionsvorschlag Versicherern, langfristige Garantien anzubieten. Das wäre insbesondere für den deutschen Markt ein Problem.
Hohe Volatilität soll nicht durchschlagen
Die Volatilitätsanpassung (VA) ist ein Aufschlag auf die risikofreie Zinskurve zur Bewertung versicherungstechnischer Rückstellungen. Damit soll verhindert werden, dass erhöhte Volatilität an den Märkten die Bewertung von Versicherungsgarantien, die für Jahrzehnte gegeben werden, beeinflusst. Die VA soll zukünftig nach einem neuen Verfahren berechnet werden. Umstritten ist dabei hauptsächlich, wie groß das Ausfallrisiko von Anleihen ist. Die dadurch erwarteten Verluste sollen sich im Risikokorrekturfaktor widerspiegeln. Die Versicherer befürchten, dass die Kommission hier einen zu pessimistischen Ansatz wählen wird.
Einen erheblichen Einfluss haben die Zinsen auf die Auswirkungen des reformierten Solvency-II-Regulierungsrahmens. Im aktuellen Zinsumfeld wird für deutsche Versicherer eine moderate Kapitalentlastung erwartet, ist aus dem GDV zu vernehmen. Vor zwei Jahren, also bei annähernd Nullzinsen, wären sogar eher negative Auswirkungen zu erwarten gewesen, sprich Kapitalbelastungen.
Sinnvoller Sicherheitsaufschlag
Vor dem Hintergrund dieser moderaten Entlastungseffekte dürften deutsche Versicherer weder ihre Kapitalanlagestrategien noch ihre Geschäftspolitik ändern. Es bleibt aber trotzdem sinnvoll, sich im Zuge der Meinungsbildung der EU-Kommission zur reformierten Solvency-II-Richtlinie für Berechnungsparameter einzusetzen, die auf historischen Erfahrungen beruhen. Ein Sicherheitsaufschlag für etwaige Marktverwerfungen, die zuvor noch nie eingetreten sind, erscheint gleichwohl sinnvoll.