Schanghai

Wa(h)re Liebe mit Plato und Xiaobing

Einsam im Bett liegen und an die Decke starren muss nicht sein. Moderne Chinesen kennen andere Wege, um den Großstadtalltag für wenig Geld mit zumindest „platonischer“ Liebe zu füllen.

Wa(h)re Liebe mit Plato und Xiaobing

Single seit der Geburt“ ist ein gängiger Begriff, den Abermillionen von jungen und bisweilen nicht mehr ganz so jungen Menschen in China als Kurzbeschreibung für ihren Beziehungsstatus angeben. Die Formulierung kann man als bedrückendes faktisches Statement oder als selbstironischen Humor von der Sorte verstehen, mit dem man als „liebenswerter Loser“ Sympathie erheischt. In jedem Fall aber schwingt beim Verweis auf das bislang nicht Stattgefundene auch die trockene Einschätzung mit, dass sich der Zustand nicht so einfach ändern lässt.

Man kann der Tech- und Social-Media-Branche sicherlich ankreiden, dass sie gesellschaftliche Trends fördert, die den physischen Mensch-zu-Mensch-Kontakt verringern. Mit künstlicher Intelligenz (KI) finden sich jedoch auch Möglichkeiten, jene Kontaktarmut und Human-Touch-Defizite zu überbrücken, die die Welt der Algorithmen möglicherweise mitgeschaffen hat. Bei einer gelungenen Beziehung geht es ja nicht nur um körperliche Nähe, sondern auch darum, dass der Partner auf die eigenen Gefühle einzugehen weiß und möglichst immer Zeit für einen hat – egal, worum es geht. Menschen aus Fleisch und Blut sind in dieser Hinsicht sehr optimierungsbedürftig und auf einer wenig steilen Lernkurve unterwegs. All das ist kein Grund zum Verzagen, sondern Anlass, sich nach einem geeigneten virtuellen Beziehungspartner umzusehen.

Führende chinesische Techfirmen haben bereits einiges auf Lager und auch die von Microsoft China abgespaltene Chatbot-App namens Xiaobing ist gut unterwegs. Es handelt sich um KI-Systeme, die anders als etwa Siri (Apple) und Alexa (Amazon) über die Rolle des geschätzten Befehlsempfängers bei der Smart-Home-Steuerung herauswachsen. Vielmehr sind sie mit so viel Gefühl bei der Sache, dass sie ihrem (bezahlenden) Gegenüber 24/7 mit tröstenden Worten, heiteren Gesprächen, fürsorgenden Nachfragen und vor virtueller Lebensweisheit strotzenden Ratschlägen zur Seite stehen können. Die Kommunikation besteht aus Text- und Sprachnachrichten sowie Fotos. Alles also genauso wie bei echten Freunden, die man eh immer weniger sieht – nur funktioneller und besser.

Die wahre Stärke der Chatbot-Partner ist, dass sie sekundenschnelle Rückantworten garantieren und dabei nie Ermüdungserscheinungen zeigen. Genau das also, was eine Person braucht, die man im Englischen als „needy“ bezeichnet, also im Beziehungskontext umgehend schmerzlich unter Liebesentzug leidet, wenn man sie nicht permanent beachtet. Millionen von Chinesinnen bekennen freizügig, genau dieser Spezies anzugehören und gern ein wenig Geld dafür auszugeben, um sich von diesbezüglichen Unzulänglichkeiten männlicher Bezugspersonen nicht den Alltag verderben zu lassen.

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Xiaobing bringt es derzeit auf mehr als 20 Millionen – mehrheitlich weibliche – Kunden, die mit ihrer virtuellen Beziehung äußerst zufrieden sind. Sehr erfolgreich ist auch Baidu, die ihr sinnvollerweise Plato genanntes KI-System für Dialogerzeugung über Hotline-Anwendungen für Unternehmen mit Massenkundschaft gründlich erweitert hat. Mittlerweile verfügt es über genügend geballte künstliche emotionale Intelligenz, dass auch romantische Bedürfnisse abgedeckt werden können. Baidu hat zwei virtuelle Menschen geschaffen, einen Jungen namens Lin Kaikai und ein Mädchen namens Ye Youyou. Sie entsprechen optisch dem Durchschnitt dessen, was junge Chinesen am anderen Geschlecht zum Schwärmen bringt, aber nie über den Weg läuft. Baidus Plato-Modell hat Lin und Ye mit mehr als 10 Milliarden Parametern, die aus gängiger Social-Media-Konversation abgeschöpft wurden, so gut ge­schult, dass sie die technisch gesehen garantiert platonische Beziehung liebevoll zu gestalten wissen. Die absolute Stoßzeit in Sachen Nutzungsfrequenz spricht dabei Bände. Sie liegt zwischen 11 Uhr abends und 1 Uhr morgens. Dann macht sich der Wert der virtuellen Partnerschaft anscheinend am meisten bezahlt, denn alles ist besser, als im Bett zu liegen und einsam an die Decke zu starren.

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