Weshalb Indien für die EU wichtiger wird
Schlafender Riese Indien
Die EU will die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem südostasiatischen Land deutlich ausbauen
Martin Pirkl, Frankfurt
Indien hat China am 19. April nach einer Berechnung der Vereinten Nationen als das bevölkerungsreichste Land der Erde abgelöst. Doch während China längst zu den wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Schwergewichtigen der Welt zählt, klebt an Indien schon seit Jahrzehnten das Image eines schlafenden Riesen, der noch nicht – aber bald – erwacht. Zwar ist der südostasiatische Staat schon jetzt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt und immerhin auf Platz 10 der wichtigsten Handelspartner der Europäischen Union (EU). Gleichzeitig kommt die Industrialisierung in dem Land aber wenig voran, und große Teile der Bevölkerung leben noch immer in Armut. „Es gibt viele Gründe dafür, das Glas derzeit eher als halbleer denn als halbvoll zu betrachten“, sagt Nils Stieglitz, Präsident und Geschäftsführer der Frankfurt School of Finance & Management.
Der bereits seit über einem Jahr andauernde russische Angriffskrieg auf die Ukraine könnte nun jedoch dazu beitragen, dass Indiens wirtschaftliche und politische Bedeutung wächst, gerade für die EU und Deutschland. Der Krieg hat nicht nur bei der Energieversorgung aufgezeigt, welche Probleme durch Abhängigkeiten – in diesem Fall von Russland – entstehen können. Ökonomen und Politiker äußern sich immer wieder besorgt darüber, wie wichtig China in vielen Bereichen für die europäische Wirtschaft ist. Angesichts der Tatsache, dass sich das Reich der Mitte in dem Konflikt mit Russland an die Seite Moskaus stellt und gleichzeitig wiederholt mit einem Angriff auf den Inselstaat Taiwan droht, den es als abtrünnige chinesische Provinz betrachtet, wachsen diese Sorgen derzeit. So forderte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vergangene Woche einen härteren Kurs der EU gegenüber China und eine Minimierung der wirtschaftlichen Risiken. Hier kommt unter anderem Indien ins Spiel. „Eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Indien kann dazu beitragen, die Lieferketten europäischer Unternehmen zu diversifizieren“, sagt Herbert Wulf, Gründer und ehemaliger Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC).
Ein zentraler Punkt dabei sind die 2022 wieder aufgenommenen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien. Zölle und hohe Bürokratie bremsen derzeit noch den bilateralen Außenhandel ab. 2013 war ein erster Versuch, ein Freihandelsabkommen zu vereinbaren, nach sieben Jahren fruchtloser Verhandlungen gescheitert. Die Chancen auf eine Einging stehen nun besser. Nicht nur die EU hat ein gesteigertes Interesse, ein Abkommen zu vereinbaren, auch für Indien hat das Vorhaben an Bedeutung gewonnen. „Indien braucht ein stärkeres Exportwachstum, wenn es sein Ziel, bis zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit, 2047, eine entwickelte Industrienation zu sein, erreichen will“, sagt Hanns Günther Hilpert, Leiter der Forschungsgruppe Asien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Um die Chancen auf eine Einigung zu erhöhen, verhandeln beide Seiten dieses Mal die Bereiche Handel, Investitionsschutz und geografische Herkunftsbestimmungen (GI) getrennt voneinander.
Letzteres schützt geografische Bezeichnungen bei Lebensmitteln. So dürfen etwa Nürnberger Lebkuchen in der EU nur als solche verkauft werden, wenn sie tatsächlich auch in Nürnberg hergestellt wurden. Bei den GI ist eine zeitnahe Einigung zwischen Indien und der EU laut Beobachtern am wahrscheinlichsten. Wichtiger wäre jedoch – auch wenn der Agrarsektor rund 17% zum indischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt – eine Einigung in den anderen beiden Bereichen.
„Der Klimaschutz dürfte einer der zentralen Knackpunkte sein“, sagt Nils Stieglitz, Präsident der Frankfurt School. Für die EU ist dies ein Thema, das unbedingt integraler Bestandteil der Abkommen sein muss. „Für das Erreichen der weltweiten Klimaziele geht es nicht ohne mehr Klimaschutz in China, aber auch in Indien“, sagt Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Doch Indien ist bei der Energieversorgung nach wie vor sehr abhängig von Kohle und ordnet den Zielen Wirtschaftswachstum sowie Wohlstand für einen größeren Teil der Bevölkerung derzeit den Umweltschutz unter. Die aktuelle Regierung unter Premierminister Narendra Modi strebt erst bis 2070 Klimaneutralität an. Sie verweist darauf, dass die bestehende Umweltverschmutzung zu weiten Teilen auf die reichen Staaten des Westens zurückgeht und es daher in erster Linie auch die Aufgabe dieser Länder sei, die Probleme wieder zu lösen. Wolle der Westen mehr Klimaschutz, dann müsse er auch die Kosten dafür tragen.
Innenpolitik als Hindernis
Dennoch verschließt sich das Land, das selbst stark unter den Auswirkungen des Klimawandels leidet, nicht dem Thema Klimaschutz. So investiert Indien unter anderem verstärkt in den Ausbau der Solarenergie. Und hier liegen auch Chancen für ein mögliches Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union. „Neben Autos und Maschinen könnte Indien auch im Bereich der nachhaltigen Technologien ein wichtiger Absatzmarkt für europäische Unternehmen werden“, sagt Stieglitz. Umgekehrt ist Europa vor allem für die indische Bekleidungsindustrie und den Dienstleistungssektor als Absatzmarkt interessant.
Die innenpolitischen Entwicklungen in Indien könnten die Verhandlungen jedoch erschweren. Die EU blickt durchaus besorgt auf einige Entwicklungen in der größten Demokratie der Welt. Die indische Regierung setzt in dem Vielvölkerstaat auf eine hindunationalistische Politik. „Muslime, Buddhisten, Sikhs, Christen und die anderen religiösen Gruppen werden systematisch ausgegrenzt“, sagt Wulf vom BICC. Auch die Meinungs- und Pressefreiheit hat große Defizite. Regelmäßig stellen die Behörden in Regionen das Internet ab. Allein in dem Bundesstaat Jammu und Kashmir sei dies laut Medienberichten 2022 mindestens 49 Mal der Fall gewesen sein.
Die politischen Verhältnisse könnten unterm Strich laut Beobachtern jedoch die Chancen auf ein Freihandelsabkommen mit der EU erhöhen. Anders als China ist Indien eine Demokratie. Für die europäischen Regierungen und Unternehmen ist dies auch deshalb ein Vorteil, weil es die Gefahr willkürlicher Entscheidungen in Indien reduziert. So betonte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei einem Besuch in Indien Ende vergangenen Jahres, dass beide Seiten grundlegende Werte verbänden, und nannte dabei explizit die „regelbasierte Ordnung“.
Investitionen in Infrastruktur
Inwieweit es dem indischen Riesen tatsächlich gelingt, zeitnah aus dem Schlaf zu erwachen, hängt auch davon ab, wie schnell die Regierung einige der permanenten Probleme der Wirtschaft beseitigen kann. Die Infrastruktur Indiens gilt als Sorgenkind „Straßen, Schienen, Hafeninfrastruktur – überall gibt es Nachholbedarf“, sagt Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Logistikkosten für Unternehmen in Indien seien daher hoch. Doch es gibt Fortschritte in diesem Bereich. „Hier tut sich einiges“, sagt Hilpert. Auch die Deutsch-Indische Handelskammer (AHK) verweist auf zahlreiche Investitionen der Regierung, etwa bei dem Ausbau des Schienennetzes für Hochgeschwindigkeitszüge oder der Erweiterung der indischen Flughafenkapazität.
Zudem muss Indien Fortschritte im Bildungssystem erzielen, wenn es zu einer Industrienation aufsteigen will. Zwar gibt es viele führende indische Wissenschaftler, doch in der Breite der Bevölkerung sieht die Lage deutlich schlechter aus. „Die Deutschen haben oft einen Informatiker vor Augen, wenn sie an die indische Wirtschaft denken. Dabei ist der Softwaresektor eher klein und Indien in weiten Teilen immer noch sehr ländlich und sehr arm“, sagt Lukas Menkhoff, Leiter der Abteilung Weltwirtschaft des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Alphabetisierungsrate lag 2018 bei nur rund 75%. Auch die Englischkenntnisse in dem Land sind ausbaufähig. Tatsächlich sprechen in Indien, einem Staat mit über 100 Sprachen, nur circa 10% der Bevölkerung Englisch.
Ein ewiges Problem in dem Land ist das Thema Korruption. Gerade bei Behördengängen gehören kleinere Zahlungen oft zum Alltag für Unternehmen und Privatpersonen. Im Korruptions-Ranking von Transparency International rangiert Indien auf Platz 85 von 180 erfassten Ländern. Auch die hohe Bürokratie bereitet Firmen Sorgen. „Die Komplexität von Verwaltungsverfahren kann in der Praxis für deutsche Unternehmen vereinzelt eine Herausforderung darstellen“, teilt etwa die AHK mit.
Doch die Politik kann hier laut Wulf durchaus Fortschritte erzielen. „Die Regierung Modi macht dem Beamtenapparat Beine“, meint er. Ein weiterer Erfolg in der Bilanz Modis ist die Einführung einer landesweiten Umsatzsteuer im Jahr 2017. Damit beendete die Regierung das System der Zölle und Abgaben zwischen den einzelnen Bundesstaaten und beseitigte dadurch ein Handelshemmnis.
Bis zum Ziel Indiens, bis 2047 eine voll entwickelte Industrienation zu werden, ist es noch weit – ebenso wie der Weg zu einem Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union noch lang ist. Ob das Glas also demnächst voll ist, muss die Zukunft zeigen. „Indien weiß, dass es wegen der aktuellen geopolitischen Spannungen rund um Russland eine große Chance hat, ein deutlich wichtigerer Wirtschaftspartner für den Westen zu werden. Ob Indien diese auch ergreifen kann, ist offen“, sagt Menkhoff.
Bundeskanzler Olaf Scholz (links) und Indiens Premierminister Narendra Modi wollen die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Staaten vertiefen. Dazu könnte auch ein geplantes Freihandelsabkommen zwischen EU und Indien beitragen.